Doppelter Verdacht
Es gibt gute Gründe, den „perfekten Bikameralismus“ Italiens abzuschaffen. Da er zu zwei Kammern führte, die unterschiedlich gewählt werden, aber bei Regierungsbildung und Gesetzgebung identische Kompetenzen haben, macht er das Regieren zum Glücksspiel. Dies erfuhr z. B. Anfang 2008 die damalige Regierung Prodi, die in der Abgeordnetenkammer über eine komfortable, im Senat aber nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügte. Damals musste Berlusconi nur ein paar Senatoren bestechen, um die ganze Regierung zu stürzen. Dass der Bikameralismus abgeschafft werden müsse, darin ist man sich inzwischen (fast) einig.
Regimewechsel?
Trotzdem begleitet den Versuch der Regierung Renzi, dies endlich in die Tat umzusetzen, ein doppelter Verdacht. Renzi wolle eine „autoritäre Wende“, d. h. er strebe ein plebiszitäres halb-präsidenzielles System an. Die Senatsreform stehe im Kontext des Wahlgesetzes, das der Abgeordnetenkammer durch die Mehrheitsprämie und hohe Hürden für kleinere Parteien die Repräsentativität nehme, wozu es dann durch den Wegfall des Senats kein institutionelles Gegengewicht mehr gebe. Bekanntlich strebte auch schon Berlusconi, mit dem die Reform verabredet wurde, den Präsidenzialismus an. Dazu passe die Brachialgewalt, mit der jetzt Renzi die Reform gegen die 7800 „Änderungsanträge“ durchzubringen suche.
Der Vorbehalt, dass man bei der Bildung des Parlaments mehr als bisher geplant auf dessen Repräsentativität achten müsse, ist berechtigt. Obwohl etwas mehr Regierbarkeit dem Land durchaus gut tun würde. Aber die Hürden für kleinere Parteien, überhaupt ins Parlament zu kommen, sind zu hoch, und die Wähler sollten sich nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen Personen entscheiden können. Einige Stellschrauben der Reform ließen sich noch feiner justieren, ohne dass man gleich die ganze Reform ablehnen muss.
Ablenkungsmanöver?
Klugen Beobachtern der politischen Szene kommt bei der gegenwärtigen Schlacht im Senat ein weiterer Verdacht. Renzi schlägt sie auf fast provozierende Weise „allein gegen alle“ – gegen Links und Rechts, sogar gegen Teile der eigenen Partei. Aber beim Wahlvolk scheint das Renzi nicht zu schaden. Im Gegenteil: Umfrage-Institute sagen, dass das Vertrauen in die Regierung auf über 60 %, in die Person Renzi auf über 65 % gestiegen ist. Wer sich mit der „Kaste“ anlegt, erweckt Sympathie – je frontaler, desto besser.
So könnte hinter dem „Allein gegen alle“ auch Kalkül stehen. Aber das ist erst der halbe Verdacht. Die eigentliche gegenwärtige Herausforderung für die Politik sei die wirtschaftliche und soziale Krise. Entgegen allen Beschwörungen, „das Licht am Ende des Tunnels“ sei schon in Sicht, und trotz aller den Menschen abverlangten Opfer dauere die Stagnation an. Auch 2014 werde es wieder nur ein Nullwachstum geben. Täglich schließen weitere Unternehmen. Die 80 €-Geldspritze, mit der Renzi die Europawahl gewann und die eine konjunkturelle Belebung bringen sollte, erweist sich ökonomisch als Flop. Die Zeichen mehren sich, dass sich die Substanz, von der das Land seit Jahrzehnten zehrt, verbraucht. Die Infrastruktur, die noch das normale Leben zusammenhielt, zerbröckelt zusehends; das Schul- und Gesundheitswesen zerfällt, der Müll türmt sich schon in der Hauptstadt.
Jeder weiß, dass eine grundlegende Sanierung Italiens anstünde. Inwieweit sie der Brüsseler Rezeptur folgen wird, mit harten Schnitten bei den öffentlichen Ausgaben, einem noch flexibleren Arbeitsmarkt und weiteren Opfern für die Menschen, muss sich noch erweisen. Für die Regierung könnte es das Harakiri bedeuten, auch wenn sie dabei das Erbe vergangener Versäumnisse antritt. Vor diesem Hintergrund mag Renzis gegenwärtige Schlacht um die Senatsreform wie ein gigantisches mediales Ablenkungsmanöver erscheinen. Das allerdings glänzend funktioniert, denn die „ehrwürdigen“ Senatorinnen und Senatoren prügeln sich filmreif wie die Kesselflicker, als stehe wieder der Faschismus vor der Tür.Die Stunde der Wahrheit kommt noch
Beide Verdächtigungen sind also nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die Abschaffung des Senats in seiner bisherigen Form ist zwar vernünftig und nicht das Ende der italienischen Demokratie. Aber das Tandem Renzi-Berlusconi sollte dabei die institutionellen Gewichte nicht allzu sehr zugunsten der Regierbarkeit verschieben. Auch dass sich der Reformer Renzi nicht gleich an die schwerste Aufgabe heranwagt, sondern erst einmal ein Ziel verfolgt, bei dem er beim Wahlvolk auf Konsens stößt, mag politisch klug sein. Denn für das, was noch kommen muss, braucht er einen Vertrauensvorschuss. Aber die Stunde der Wahrheit selbst kann er nicht unbegrenzt hinauszögern. Sie kommt wahrscheinlich noch in diesem Jahr.