Riskantes Spiel
Die Regierung Renzi hat dem Parlament den Entwurf für eine „Legge delega“ (zu Deutsch: Ermächtigungsgesetz) zugeleitet, das ihr freie Hand bei der geplanten Arbeitsmarktreform geben soll. Der Entwurf bleibt vage: Er benennt eher zu bearbeitende Themen als konkrete Vorhaben: Das unüberschaubare Dickicht vielfältiger Arbeitsverträge (vor allem im Prekariat) soll gelichtet werden, zugunsten eines einheitlichen Arbeitsvertrags mit zeitlich wachsendem Kündigungsschutz. Wer entlassen wird, soll durch ein besseres soziales Netz aufgefangen werden als bisher. Eigentlich zu vage für ein Parlament, das in einer Demokratie der oberste Gesetzgeber sein sollte.
Aber das allein erklärt nicht den Sturm, den der Entwurf auf der Linken ausgelöst hat. Die bisher zerstrittene Fraktionslinke der PD raufte sich zusammen und fand in Bersani, Renzis Vorgänger als PD-Generalsekretär, ihren Sprecher. Von einer Mitgliederbefragung ist die Rede, ja von Parteispaltung. Der Gewerkschaftsverband CGIL kündigt den Generalstreik an.
Immer noch Streit um Artikel 18
Vor allem geht es um Art. 18 des Beschäftigtenstatuts. Obwohl es nicht im Entwurf steht, der jetzt dem Parlament zur Beratung vorliegt, kündigte Renzi an, auch diesen Artikel ändern zu wollen. Daran werde ihn auch nicht die „alte Garde“ der PD hindern, die offenbar die Partei wieder auf die früheren 25 % drücken wolle. Seitdem ist Bersani sauer. Es scheint, dass hier zwei Züge ungebremst aufeinander losfahren.
Der Streit dreht sich um die Frage, ob dem zu Unrecht Entlassenen nicht nur eine Abfindung, sondern unter Umständen auch die Wiedereinstellung zusteht. Der Linken geht um die Würde des Arbeitenden, auch wenn er abhängig beschäftigt ist, der man nicht immer nur durch eine finanzielle Abfindung gerecht werden könne. Renzi nennt dies „ideologisch“ – und verrät damit mehr über sich, als ihm vielleicht lieb ist.
Renzis Begründung: mal neoliberal …
Renzi schiebt, je nach Publikum, bei seiner Antwort mal neoliberale, mal moralische Argumente nach vorne. Als er am 24. September vor dem New Yorker Council on Foreign Relations auftrat, überwog die neoliberale Begründung: „In Italien müssen wir Revolution machen, denn es kann doch nicht sein, dass dort viele Menschen ohne Arbeit und ohne Perspektive bleiben. Dafür müssen wir den Unternehmern das Leben vereinfachen, die Leute einstellen wollen, und müssen vermeiden, dass es dort statt des Unternehmers ein Richter ist, der über Einstellung oder Entlassung entscheidet“. Also Schluss mit der Verrechtlichung, freie Bahn dem Unternehmertum. (Eigentlich müsste dann auch das bisher geltende Diskriminierungsverbot fallen, das Renzi jedoch beibehalten möchte).
… mal moralisch
Wenn sich Renzi an sein italienisches Publikum wendet, tritt das moralische Argument in den Vordergrund: Der Schutz durch Art. 18 sei längst Privileg einer Minderheit, die Mehrheit der Arbeitnehmer und insbesondere der größte Teil der Jüngeren könnten von einem so geschützten Arbeitsverhältnis nur träumen. Die Statistiken geben Renzi Recht: Laut Istat fallen gegenwärtig nur noch 7,9 Mio. Beschäftigte unter den Artikel, 14,5 Mio. jedoch nicht. Vor allem bei Neueinstellungen werden unbefristete, von Art. 18 geschützte Verträge immer mehr zur aussterbenden Art: 2011 lag ihr Anteil bei 20 %, heute bei 16 %. Für Renzi herrscht auf dem Arbeitsmarkt „Apartheid“, woran auch die Gewerkschaften schuld seien: Während sie sich auf die Verteidigung der Schutzrechte einer kleiner werdenden Arbeiteraristokratie kaprizierten, wolle Renzi die Schutzlosigkeit der Mehrheit beenden, der Jüngeren, die – wenn überhaupt – Arbeit nur noch mit Zeitverträgen bekommen, oder derer, die in Betrieben mit weniger als 15 Beschäftigten arbeiten, auf die sich Art. 18 sowieso nicht bezieht. Dieser Mehrheit, welcher der Artikel ziemlich egal sein dürfte, will er durch ein Bündel von Maßnahmen aus der Rechtlosigkeit helfen: einheitlicher Arbeitsvertrag, Arbeitslosengeld (Finanzierung ungeklärt), Umschulungshilfen, Mutterschutz usw. (Eine Beschäftigten-Gruppe würde dabei allerdings zum Verlierer: der Öffentliche Dienst).Nebengedanke Brüssel
Natürlich verfolgt Renzi mit seiner Reform auch Nebenabsichten. Die erste betrifft „Europa“: Um nicht zu einer Haushaltspolitik gezwungen zu werden, die Italien immer tiefer in die Rezession treibt, will er gegenüber dem Brüsseler Austeritätskurs mehr Flexibilität durchsetzen. Was jedoch voraussetzt, dass er glaubhaft die berühmten „Strukturreformen“ in Angriff nimmt. Zwar dürfte es weniger der Art. 18 sein, der die Investoren vom Engagement in Italien abhält, sondern die Korruption, die lähmende Bürokratie und die verrottende Infrastruktur. Aber Brüssel fordert seine „Skalps“, und dazu gehört Art. 18. Eine erste Erklärung für die demütigende Rüpelhaftigkeit, mit der Renzi die Gewerkschaften und die eigene Parteilinke angeht: Je gereizter sie reagieren, nach Generalstreik rufen usw., desto mehr zeigt er Brüssel, dass seine Reformabsichten nicht nur „kosmetisch“ sind.
Hintergedanke Wähler
Damit sind wir aber auch beim zweiten Adressaten, der italienischen Wählerschaft. Wenn Renzi öffentlich Partei-Granden wie Bersani zur „alten Garde“ rechnet, die wieder zu den „ideologischen Grabenkämpfen und zur 25 %-Partei zurückkehren“ wollten und mit denen es keinen „Kompromiss“ geben könne, und wenn er die Gewerkschaften fragt, was sie denn in den vergangenen Jahren für die „Prekären“ getan hätten, blickt er dabei auch auf sein rechtes Wählersegment. Renzi ist der erste Mittelinks-Führer, dem es gelang, das Getto, in dem sich bisher die Linke befand, zu durchbrechen und auch Stimmen im Mitterechts-Lager zu fischen. Die Wahlforscher meinen, von den gut 40 %, die bei den Europa-Wahlen ihr Kreuz bei der PD machten, hätten es knapp 25 % „für die PD“ und 17 % „wegen Renzi“ getan. Um seine (in letzter Zeit schwindende) Popularität in dieser wankelmütigen zweiten Gruppe zu halten, müsse Renzi den Konflikt mit der PD-Linken und der CGIL zum Dauerbrenner machen.
Renzi hat Chuzpe, aber spielt auf Risiko. Denn auch Bersani hat Recht, wenn er Renzi antwortet: Du regierst nicht nur wegen „Deiner“ 17 %, sondern auch wegen „meiner“ 25 %, also etwas mehr „Respekt“ bitte. Der deutsche Betrachter erinnert sich: Hier beanspruchte ein Kanzler, dem Land mit der „Agenda 2010“ einen Dienst zu erweisen. Ob sie das Richtige war, ist bis heute umstritten. Was jedoch unbestreitbar ist: Die Reform führte dazu, dass sich ein Teil der SPD-Linken abspaltete und die SPD einen Teil ihrer Wählerschaft verlor. Seitdem haben wir Merkel for ever. In Deutschland und, vielleicht noch schlimmer, in Europa.