Die Legende vom rigiden Arbeitsmarkt
Die Überzeugung ist verbreitet, dass das italienische Beschäftigtenstatut eine, wenn auch nicht die einzige Ursache der dortigen Wirtschaftskrise sei (siehe auch Wolf Rosenbaums Kommentar zu meinem Beitrag „Riskantes Spiel“ vom 30. 9.). Daraus folgt die Therapie: Reformbedürftig sei vor allem Artikel 18, der den Kündigungsschutz für Beschäftigte mit unbefristetem Arbeitsvertrag in Mittel- und Großbetrieben regelt und als der eigentliche Stolperstein gilt.
Die zwei Artikel 18
Die Frage ist: Stimmt die Diagnose? Zunächst ist zu klären, von welchem Artikel 18 wir eigentlich reden. Ist es der Artikel 18, der 1970 mit dem Beschäftigtenstatut Gesetzeskraft erlangte, oder ist es das, was die Regierung Monti von ihm übrig ließ, als sie ihn im Juni 2012 reformierte („Legge Fornero“)? Der Unterschied ist nicht unerheblich: In der Fassung von 1970 hatte ein entlassener Arbeitnehmer das automatische Recht auf Wiedereinstellung, wenn ein Arbeitsgericht die vom Unternehmen vorgebrachten Gründe – betrieblicher oder subjektiver Art – nicht anerkannte oder in der Entlassung eine Diskriminierung sah. Durch die Reform von 2012 blieb zwar das automatische Wiedereinstellungsrecht im Fall der Diskriminierung oder bei Nichtigkeit einer disziplinarischen Begründung erhalten. Gelockert wurde das Wiedereinstellungsrecht jedoch dann, wenn der Arbeitgeber betriebliche Gründe anführt. Auch wenn jetzt das Gericht feststellt, dass sie nur vorgeschoben sind, muss es dem Arbeitgeber nicht mehr in jedem Fall auferlegen, den Entlassenen wieder einzustellen. Es kann die Sanktion auch auf eine kräftige Abfindung beschränken.
Der italienische Arbeitsmarkt ist flexibler als der deutsche
Dies ist der Ist-Zustand. Kann er eine Ursache der italienischen Wirtschaftskrise sein? Die europäische Sozialcharta legt fest, dass „ohne triftigen Grund entlassene Arbeitnehmer das Recht auf eine angemessene Entschädigung oder einen anderen zweckmäßigen Ausgleich“ haben. Dies ist der Mindeststandard, über den Art. 18 des italienischen Beschäftigungsstatuts auch in seiner heutigen Fassung noch hinausgeht. Die Regierung will die Rechtslage diesem Mindeststandard um einen weiteren Schritt annähern: Wenn ein Arbeitgeber jemanden aus „betrieblichen Gründen“ entlässt, steht ihm, auch wenn ein Arbeitsgericht die Begründung für nichtig oder vorgeschoben erklärt, höchstens eine Abfindung zu.
Ein Blick auf andere europäische Länder zeigt: Das Recht auf Wiedereinstellung kennen viele europäischen Länder, auch bei Entlassungen „aus betrieblichen Gründen“. Und zwar nicht nur die üblichen „Verdächtigen“ wie Griechenland oder Portugal, sondern auch Österreich, Holland, Schweden, Großbritannien. Auch das Musterland Deutschland, wo der gegen seine Entlassung klagende Arbeitnehmer in einem Betrieb mit mehr als 10 Beschäftigten sogar das Recht auf Weiterbeschäftigung hat, solange die Klage läuft.
Die OECD hat aus Gründen der Vergleichbarkeit einen Rigiditätsindex für die Arbeitsmärkte entwickelt (je höher die Indexzahl, desto rigider der Arbeitsmarkt). Bei Beschäftigten mit unbefristetem Arbeitsvertrag kam sie 2013 für Italien auf einen höheren Index (2,51) als für Großbritannien (1,03) oder Irland (1,40). Der aber hinter noch mehr anderen Ländern zurück bleibt – nicht nur hinter Frankreich (3,63), sondern auch hinter Holland (2,82). Und hinter Deutschland, das auf immerhin auf einen Index von 2,87 kommt.
Die Frage, auf welche Hindernisse ein Arbeitgeber stößt, der seine Arbeiter entlassen will, scheint für die Prosperität eines Landes also nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Sonst müsste es z. B. Deutschland schlechter als Italien gehen. Der Grund für die italienische Wirtschaftskrise ist hierin nicht zu suchen.
Der wahre Pferdefuß: die Langsamkeit der Justiz
Es gibt eine italienische Besonderheit, die zum Investitionshindernis werden kann und etwas mit dem Beschäftigtenstatut zu tun hat, wenn auch nur indirekt. Eine OECD-Studie kam 2009 zu dem Ergebnis, dass ein Arbeitsgerichtsverfahren, das in Deutschland im Durchschnitt 4 Monate dauere, in Italien zwei Jahre braucht – die dortige Rechsprechung ist langsam, in 60 % der Fälle (in Deutschland in 5 %) geht man in Berufung. Der Mailänder Arbeitssoziologe Reyneri sieht hierin die eigentlich „Crux“, weil es Unsicherheit in die unternehmerische Planung bringe (wie auch der dortige Bürokratismus, z. B. bei Genehmigungsverfahren).
Vor diesem Hintergrund bekommt Renzis Feldzug gegen den Art. 18 nun doch einen Sinn, auch wenn er verquer ist: Er entlastet die Arbeitgeber von der zweijährigen „Ungewissheit“, ob ein entlassener Arbeitnehmer wieder einzustellen oder nicht. Wenn dies ein Motiv für die Abschaffung des Art. 18 ist – und nicht nur der Wunsch, Brüssel und Angela Merkel gnädig zu stimmen und der eigenen Rechten einen Gefallen zu tun -, schüttet Renzi das Kind mit dem Bade aus: Statt der Justiz Beine zu machen und die Prozessdauer auf einen überschaubaren Zeitraum zu verkürzen, demontiert er lieber ein Recht, das in den meisten europäischen Ländern zum sozialen Standard gehört.Letzte Meldung: Renzi hatte die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz, das ihm hier freie Hand lässt, mit der Vertrauensfrage verknüpft. Damit setzte er der eigenen Linken, die bis zuletzt um den Erhalt des Art. 18 kämpfte, die Pistole auf die Brust. In der Nacht zum Donnerstag stimmte der Senat dem Gesetz nach turbulenter Sitzung mit 165 zu 111 Stimmen zu (im Senat liegt die absolute Mehrheit bei 160 Stimmen). Die PD-Senatoren, die allein aus Fraktionsdisziplin zustimmten, fühlen sich überfahren. Einer von ihnen, Walter Tocci, ein integrer Mann, gab bereits seinen Senatssitz auf. Wie viele ihm darin noch folgen, wird sich zeigen.