Der Futurist
Wer heute auf Italien schaut, dem fällt eine Ungereimtheit auf. Renzi steuert, so scheint es, immer deutlicher auf den Bruch mit dem großen Gewerkschaftsverband CGIL und der ihr nahestehenden PD-Linken zu. Es kulminierte am letzten Oktober-Wochenende: Während in Rom eine Million Menschen gegen Renzis Arbeitsmarktpolitik demonstrierten, veranstaltete Renzi in einem stillgelegten Bahnhofsgebäude von Florenz („Leopolda“) einen mehrtägigen Konvent, bei dessen Abschlusskundgebung er kübelweise Hohn und Verachtung über die römische Demonstration und ihre Veranstalter – und gleich auch über die eigene Linke – ausgoss. Jedem klassischen Politikberater, der 1 und 1 zusammenzählen kann, mussten hier die Haare zu Berge stehen, denn wenn auch nicht alle Demonstranten Anhänger der PD waren, so war es doch ein Teil der eigenen „Basis“, gegen die er hier vom Leder zog.
Das Rätsel
Nun das Merkwürdige: Ihm und der von ihm geführten PD scheint dies in der Wählergunst nicht im Geringsten zu schaden. Die letzte Umfrage, die nur ein paar Tage alt ist, ergab: Auch heute würden wieder gut 40 % derer, die überhaupt noch zur Wahl gehen, PD wählen. Alle anderen Parteien lägen weit darunter: Grillos 5-Sterne-Bewegung bei ca. 20 %, Berlusconis Forza Italia sogar nur bei 15 %. Zwar steigt die Lega auf ca. 10 %, aber Vendolas linke SEL, die eigentlich prädestiniert scheint, enttäuschte PD-Wähler aufzufangen, dümpelt weiter unter 3 %.
Für die Parteienforscher hat Renzi aus der PD eine „PdR“ gemacht, die „Renzi-Partei“. Von den 40 %, die heute PD/alias PdR wählen, täten es ca. 15 % (überwiegend aus dem rechten Lager) wegen der Person Renzis, also „trotz“ der PD, und 25 % (die Stammwähler der PD) „trotz“ Renzis. Wie schafft es Renzi, diesen Sack Flöhe zusammenzuhalten? Auch die Wählerschaft der 5-Sterne-Bewegung reicht von ganz Links bis ganz Rechts, und Grillo löste bisher das Problem schlecht und recht dadurch, dass er zwischen beiden Polen hin und hier irrlichtert. Trotzdem bewegt er sich in der Wählergunst langsam nach unten. Bei Renzis PdR bleibt dieser Sinkflug – bisher – aus, obwohl er auf einen Teil seiner eigenen Wählerschaft geradezu eindrischt. Der Politologe Diamanti weiß es noch genauer: Jeder vierte Renzi-Wähler identifiziert sich mit der CGIL und ihren Protesten gegen die Regierungspolitik. Also nochmals: Wie schafft es Renzi, trotzdem seine 40 % zu halten?
Zukunft versus Vergangenheit
Wir müssen Renzi dorthin folgen, wo er seine Träume (früher hätte man gesagt: seine „Ideologie“) verkauft. Hören wir also der Botschaft zu, die er in der „Leopolda“ der römischen Massendemonstration entgegensetzte. Sie steckte schon in der Wahl des Versammlungsorts: eine stillgelegte Bahnhofshalle, eher Baustelle als Versammlungsort. Soll heißen: Hier sind wir im Silicon Valley von Italiens Zukunft. In Renzis Rede wurde diese „Zukunft“ zum Maß aller Dinge. Und zur Scheidung der Geister: hier die visionären Pioniere, die mutig voranschreiten, dort die verzagten Nostalgiker, die sich an das Althergebrachte klammern, an die „Gettoni“, die man einst zum Telefonieren, und an die Filmrollen, die man einst zum Fotografieren brauchte. Das sind die „Veteranen“, die „Gufi“, die ewig Gestrigen, die jetzt in Rom demonstrieren und in deren Hände er, Renzi, nie wieder die PD zurückgeben werde, damit sie aus ihr wieder die alte 25 %-Partei machen. Womit er en passant auch das Thema abhakt, für das zur selben Zeit die Menschen in Rom demonstrieren, den Erhalt des Artikels 18, der die unternehmerische Freiheit zu Entlassungen einschränkt. Das seien Gesetze von 1970, und übrigens: den festen Arbeitsplatz, die sie da verteidigen wollten, gebe es sowieso nicht mehr! Das hatte zwar niemand behauptet, aber bei Renzi klang es fast triumphierend. Sein Vortragsstil ist messianisch. Der Jubel der Menschen, die sich in der „Leopolda“ drängten – darunter viele Unternehmer und kleine Selbständige -, lässt den Saal erbeben.Verflüssigte Gegenwart
Es ist das Manifest einer neuen Partei, die vom Ufer ablegt und alle Leinen kappt. Für eine Zukunft, gegenüber der sich alles Vergangene auflöst und alles Gegenwärtige verflüssigt. „Eine Partei, die sich im Hinblick auf ihre Ziele, ihre Parolen und ihre sozialen Bezugspunkt permanent neu definiert. Die immer wieder Abschied nimmt und neue Ufer ansteuert“ (Diamanti). Die „Feinde“ sind diejenigen, die das Schiff am Ufer halten wollen. Das ist die Trennung. Wer sich mit auf die Fahrt begibt, bei dem zählt nicht mehr, wo er herkommt. Das ist die Versöhnung. Aber schaut man genau hin, wendet sich beides nicht an die gleichen Adressaten.
Man beginnt zu ahnen, warum Renzi zu faszinieren vermag, und zwar über politische Grenzen hinweg. Schattenseiten gibt es nicht. In der ersten Reihe der „Leopolda“ sitzen Menschen des Erfolgs: Da ist der, der die havarierte „Concordia“ umdrehte, und ein anderer, der nach einem Impfstoff gegen Ebola sucht. Ehemalige Arbeitslose treten auf, die es „geschafft haben“. Zum Beispiel ein schon 2001 entlassener Textilarbeiter, der für einen Arbeitsgang in der Pelzproduktion ein Patent entwickelte, das er heute in die ganze Welt exportiert. Renzi verkauft den „naiven Traum einer Arbeitswelt, in der es nur Sieger gibt, wo alles Energie ist, Optimismus und Lächeln, eine Art Truman Show, und in dem alles ausgeblendet wird, was auf die Härte des Konflikts und die Demütigung vergeudeter Leben hinweisen könnte“ (Michele Serra, Repubblica 30. 10.).
Eine Gratwanderung, von der Renzi bisher nicht abstürzte. Über den Untergrund bröckelnder Steilhänge tanzt er hinweg. Traditionelle Loyalitäten schwinden, sagen die Forscher. Sagen sie nicht auch, dass sich heute die Identitäten verdoppeln und verdreifachen können? Warum soll der, der heute gegen Renzis Politik demonstriert, ihn nicht morgen wieder wählen?
Letzte Meldung: Am gestrigen Freitag fanden in 25 italienischen Großstädten Streiks und Massendemonstrationen statt, an denen sich Studenten, Schüler, Prekäre, Arbeitslose, Migranten, sog. „Basis-Gewerkschaften“ und nicht zuletzt auch die FIOM, die größte italienische Metallarbeitergewerkschaft, beteiligten. Sie richteten sich gegen die Politik der EU und der Renzi-Regierung, gegen den Jobs Act, gegen den neuen Haushalt und die Schulreform. In Rom schritt vor dem römischen Wirtschaftsministerium und der Deutschen Botschaft die Polizei ein.