Abschied von Mare Nostrum
Am 5. Dezember gab es in Hannover eine weitere Lesung zu Lampedusa (s. www.lampedusa-hannover.de). Die Veranstalter, zu denen auch das italienische Generalkonsulat in Hannover gehörte, luden einen italienischen Botschaftsrat aus Berlin zu einem Statement ein. Es wäre kaum erwähnenswert, wenn der Botschaftsrat – eingepackt in viel heiße diplomatische Luft, in Bekenntnissen zur Humanität und zum deutsch-italienischen Schulterschluss – nicht nebenbei auch Folgendes gesagt hätte:
„Die illegale Einwanderung nach Europa muss eingedämmt werden“
Niemand auf dem Podium ging auf diesen Satz ein, und das Publikum, dem eigene Stellungnahmen verwehrt waren, spendete dem Redner am Ende höflichen Beifall. Allzu selbstverständlich klang, was er hier sagte. Und es dürfte auch einen Konsens ausgedrückt haben, der in Deutschland nicht nur von der gegenwärtigen Großen Koalition, sondern auch von einer Bevölkerungsmehrheit getragen wird. Das Problem ist nur, dass es hier im Zusammenhang einer Lesung über die Toten von Lampedusa gesagt wurde. Die versucht hatten, „illegal“ nach Europa zu kommen, und somit „einzudämmen“ waren. Und dabei ertranken.
Zunächst einmal: Warum trifft eine derartige Feststellung in Europa immer noch auf einen solchen spontanen Konsens? „Eindämmen“ beschwört in einer Sturmflut brechende Dämme. Und „illegal“ macht den Satz fast zur Tautologie: Was illegal ist, ist per definitionem einzudämmen. Wie Betrug, Diebstahl, Mord und alles, was sonst noch „illegal“ ist.
Der asylpolitische Widerspruch
Der Satz, dass die „illegale“ Einwanderung nach Europa einzudämmen sei, ist eine doppelte Manipulation. Die erste ist die Unterstellung, dass es zur gegenwärtigen Flüchtlingspolitik keine Alternativen gibt. Spräche man beispielsweise nicht von „Eindämmen“, sondern nur von „Regulieren“, würden sich für Alternativen andere Räume eröffnen. Die zweite steckt im Satzteil „illegale Einwanderung“. Als ob Illegalität ein Attribut dieser Einwanderung ist. Aber nicht die Flucht ist „illegal“, sondern Europa erklärte den Übertritt von Flüchtlingen in ein europäisches Land für illegal. Die Ertrunkenen von Lampedusa waren keine Betrüger, Diebe oder Mörder, sondern Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Hunger flohen. Und die sich bei ihrem Fluchtversuch nach Europa in einem Widerspruch verfingen, den nicht sie zu verantworten haben: Einerseits verheißt ihnen Europa ein auf dem Papier noch vorhandenes Asyl- oder zumindest Bleiberecht. Andererseits hindert es die meisten von ihnen, dieses Europa auf legalem Wege zu erreichen – was nach geltendem Recht nötig ist, um einen solchen Antrag überhaupt stellen zu können. Ein Widerspruch, der bis heute Hunderttausende von Flüchtlingen in die Hände gewissenloser Schlepper und Zehntausende in den Tod treibt.
Spätestens seit Lampedusa und erst recht seit dem Ende von „Mare Nostrum“ lassen sich die Toten nicht mehr als Opfer unerwarteter Katastrophen beklagen. Sie sind vorhersehbar – als ein zu dieser „Flüchtlingspolitik“ gehörender Kollateralschaden. Der billigend in Kauf genommen wird, solange wir an dieser Politik festhalten.
„Mare Nostrum“ ist Vergangenheit
Nach Lampedusa ist das in diesem Oktober vollzogene Ende von „Mare Nostrum“ die zweite große Tragödie der europäischen Flüchtlingspolitik. Kurz vor ihrem Ende versuchte Rupert Neudeck noch, die Aktion öffentlich aufzuwerten, indem er sie für den Friedensnobelpreis vorschlug. Es war vergeblich. Aber seine Bemerkung hat Bestand, das „Mare Nostrum“ für Europa ein Moment der Menschlichkeit war, in dem eine große Militärmaschine (die italienische Marine) ausnahmsweise nicht dem Krieg oder der Abschreckung, sondern einfach nur der Rettung von Menschenleben diente. Nach Ablauf eines Jahres bat Italien das restliche Europa (auch Deutschland!) geradezu flehentlich, in diese Aktion mit einzusteigen. Die Antwort war ein weiteres Kapitel europäischen Versagens.Offenbar hat Italien aus dieser Lektion gelernt. Wenn der Botschaftsrat ein Sprachrohr seiner Regierung ist, scheint sie entschlossen, ihrer eigenen Aktion keine Träne mehr nachzuweinen. Willkommen in Europa, Italien! Dazu passt auch die Bemerkung, die illegale Einwanderung müsse eingedämmt werden. Italien ist wieder auf Linie. „Mare Nostrum“, das einen historischen Moment lang eine andere Priorität setzte, war ein Systemfehler, begangen in einem Moment geistiger Verwirrung (Lampedusa!). An Europas Grenzen werden die Schlepper weiterhin gut verdienen. Das Sterben wird weitergehen.