Flasche leer
Vor einem knappen Jahr, Ende Januar 2014, berichteten wir („Partizipation ohne Vertrauen“) über eine Umfrage, welche das italienische Meinungsforschungsinstitut Demos im Auftrag der „Repubblica“ jeweils zum Jahresende über die Stimmung der Italiener veröffentlicht. Das von dem Politologen Ilvo Diamanti präsentierte Ergebnis war schon damals beunruhigend, denn es konstatierte den generellen Vertrauensschwund in alle demokratischen Institutionen, vom Staat über das Parlament bis zu allen Parteien. In den Abwärtsstrudel waren auch der Staatspräsident und die Justiz geraten, obwohl ihr öffentliches Ansehen immer noch vergleichsweise gut war. Das Gleiche gilt für die EU, die vielen Italienern lange Zeit wie ein Rettungsanker gegenüber den eigenen Defiziten erschien.
Allerdings einen Hoffnungsschimmer hinterließ die Umfrage, den Diamanti auch gebührend hervorhob: eine Bereitschaft zur gesellschaftlichen Partizipation, die – so konnte man das Ergebnis lesen – nur auf ein günstigeres Klima wartet.
Die neue Umfrage
Nun also ein Jahr später eine erneute Umfrage, um der Vergleichbarkeit willen mit ähnlichen Items. Da die Ergebnisse dieses Dezembers zusammen mit den entsprechenden Ergebnissen von Ende 2013 und 2010 präsentiert wurden, beschränke ich mich hier auf den Vergleich mit 2010. Die Daten von 2013, die ich dabei übergehe, liegen „dazwischen“. Das Hauptergebnis ist simpel: Der Vertrauensverlust aller Institutionen ist noch abgrundtiefer geworden. Vertrauen in den Staat, das 2010 immerhin noch 30 % der Befragten bekundeten, haben inzwischen nur noch 15 %, Vertrauen in das Parlament statt 13 nur noch 7 %, in die Parteien angesichts der nicht abreißenden Korruptionsskandale nur noch fast zu vernachlässigende 3 %. Ähnliches gilt für die letzten „Felsen in der Brandung“: Das Vertrauen in den Staatspräsidenten sank von 71 (2010) auf heute 44 %, in die Justiz von 50 auf heute 33 %. Die Italiener sind offenbar dabei, ihren Glauben an die repräsentative Demokratie überhaupt zu verlieren. Die Frage, ob es eine Demokratie auch ohne Parteien geben könne, beantwortet erstmals die Hälfte der Befragten zustimmend.
Auch die Entzauberung der EU ist weiter fortgeschritten: Von den 49 %, die noch 2010 auf sie hofften, tun dies heute nur noch 27 %. Die deutsche Hegemonie über Europa macht nicht nur Deutschland verhasst, sondern auch Europa unattraktiv. Entsprechend pessimistisch sind die Erwartungen für die Zukunft. Mehr als zwei Drittel der Befragten glauben, dass es zu einer Besserung der Lage weder im nächsten noch im übernächsten Jahr kommen werde.
Aber Halt, es gibt die eine Ausnahme in dieser Wüste der Trostlosigkeit. Sie heißt Franziskus. 9 von 10 Italienern, also praktisch alle, achten und vertrauen ihm. Nicht weil sie besonders kirchentreu sind, denn das Vertrauen zu Franziskus überträgt nur jeder zweite Italiener auf die Kirche. Den Verdacht, dass es sich eher um einen Protest gegen den Rest der Welt handelt, bringt Diamanti auf den Punkt: Seine „ungeheure Popularität“ rühre daher, „dass es keine Hoffnung mehr gibt. Und wir uns nur noch der göttlichen Vorsehung überantworten können“.
Also nichts Neues?
Auch wenn dies den Zweifel nährt, ob die gegenwärtige europäische Politik gegenüber den Südländern tatsächlich „ohne Alternative“ ist, könnte man fragen, was an Diamantis Befunden eigentlich neu ist – die Italiener sehen immer schwärzer in die Zukunft, ihrer Wirtschaft geht es immer schlechter, na und? Ist das nicht nur die Fortschreibung des sowieso Bekannten?
Es gibt zwei Gründe, an diesem Punkt trotzdem innezuhalten. Der erste ist eine „Neuigkeit“ (Diamanti), welche die Demos-Umfrage dieses Dezembers nun doch zutage förderte: Was heute überwiege, sei das Gefühl umfassender „Vereinsamung“, und zwar nicht nur gegenüber Parteien, Institutionen und Staat, sondern auch im beruflichen und sozialen Bereich – sechs von zehn Italienern erklären sogar, „den Anderen“ ganz allgemein zu misstrauen. Dahinter stehe eine Ohnmachtserfahrung, welche „das konkrete Risiko einer Gewöhnung an das Misstrauen“ enthält. Dies relativiert die Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement, welche noch die Umfrage von Ende 2013 diagnostizierte.
Der andere Grund für ein Innehalten ist die Tatsache, dass dieses Ergebnis nach 10 Monaten Renzi kommt – also nach dem Antritt des Mannes, den in Italien (und auch Europa) viele Menschen als neuen Hoffnungsträger begrüßten, welcher die Verdüsterung des italienischen Horizonts durchbrechen konnte. Warum erzeugte er keine Aufbruchsstimmung, welche die ersten Monate nach seinem Amtsantritt überdauerte?
Renzis Beitrag
Ich will hier zwischen Renzis Politik und der gesellschaftlichen Stimmung, welche die Demos-Umfrage zu erfassen sucht, kein einfaches Ursache-Wirkung-Verhältnis konstruieren. Denn Renzis Aufstieg und seine Politik sind Wirkung und Ursache zugleich. Das Misstrauen gegenüber Staat, Parteien und sozialen Institutionen, das er mit seiner „Verschrottung“ bediente, bestand schon lange vor ihm. Aber obwohl ihn bei den Primarie eine breite Mobilisierung nach oben trug, war er nicht der Mann, der seine Mitmenschen zu einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, z.B. gegen die Korruption, aufrief. Stattdessen bediente er die in Italien latent immer noch vorhandene Hoffnung auf die autoritäre Führung durch den „starken Mann“, der intermediäre Strukturen aus dem Weg räumt: Er entmündigte das Parlament zugunsten seiner Exekutive, erkannte eigenständige soziale Subjekte wie die Gewerkschaften nicht mehr als Gesprächspartner an und machte die Verrechtlichung des Verhältnisses von Arbeitgebern und Arbeitnehmern teilweise rückgängig.
Wie schon gesagt: Die politische „Entmediatisierung“ (Rodotà) ist nicht die alleinige Ursache der kollektiven Ohnmachtserfahrung, von der die neue Umfrage berichtet. Aber sie könnte einer ihrer verstärkenden Faktoren sein. Dafür, dass der in Italien benötigte „Ruck“ durch die Gesellschaft geht, scheint auch Renzi nicht der richtige Protagonist zu sein.
Im Namen der Redaktion wünsche ich – dennoch! – unseren Lesern ein gutes 2015.