Schöne Bescherung
Es gibt Geschichten, die muss man von vornherein zweimal erzählen. Diese gehört dazu.
Version (1)
Am 24. Dezember sitzt der italienische Ministerrat noch einmal beisammen, um die letzten Hausaufgaben des Jahres zu erledigen. Im März 2014 hatte das Parlament ein Rahmengesetz für eine Steuerreform verabschiedet, die das italienische Steuersystem einfacher und gerechter machen sollte. Zu seiner Umsetzung soll jetzt ein Dekret verabschiedet werden. Der Entwurf, der vor den Ministern liegt, verschärft die Sanktionen für Steuerhinterziehung, enthält aber auch den Passus, dass Steuervergehen nicht mehr der Strafverfolgung unterliegen, „wenn der hinterzogene Steuerbetrag 3 % des zu versteuernden Einkommens nicht übersteigt“ – die mit Steuervergehen befassten Gerichte, so die Erklärung, sollen von Bagatellfällen entlastet werden. Der Ministerrat erteilt dem Gesamttext seinen Segen. Anschließend ruft Renzi Berlusconi an. Um ihm, wie es sich gehört, schöne Weihnachten zu wünschen.
Erst nachträglich erfährt die Runde, dass Berlusconi den zitierten Passus nutzen könnte, um seine Verurteilung im „Mediaset“-Prozess (Steuerhinterziehung) rückgängig zu machen. Seine „Strafe“, die schließlich nur noch aus einem einjährigen Sozialdienst in einem Altersheim bestand, hat er schon fast abgebüßt, aber das an die Verurteilung gebundene 6-jährige Verbot, ein öffentliches Amt auszuüben, besteht noch. Daran hatte der Ministerrat bei seinem Beschluss nicht gedacht. Als Renzi Anfang Januar auf diese Möglichkeit hingewiesen wird, erklärt er: „Wir machen unsere Gesetze für die Bürger, nicht ad oder contra personam“. Trotzdem zieht er sofort den Entwurf zur Neubehandlung im Ministerrat zurück. Er soll jetzt erst im Frühjahr, nach der Neuwahl des Staatspräsidenten, den zuständigen parlamentarischen Instanzen zugeleitet werden.Version (2)
Pech gehabt, Matteo. Dank einer aufmerksamen Presse wurdest Du trotz Weihnachtstrubel mit den Fingern im Marmeladenglas erwischt. Man ahnte ja schon lange, dass Du Berlusconi als Gegenleistung für seine Hilfe bei den Strukturreformen den „Arsch retten“ willst (so z. B. Beppe Grillo). Inzwischen geht es auch noch um die Neuwahl des Staatspräsidenten, bei der Du mit ihm einen Deal machen willst. Ausgerechnet den 24. Dezember hast Du ausgesucht, um ihm das auf den Gabentisch zu legen – Du dachtest, da passt keiner auf. In den vorhergehenden Entwürfen, die das Wirtschaftsministerium für den Dekret erarbeitete, tauchte der Passus nicht auf – Du hast ihn im letzten Moment in den Text hineingemogelt, der auf dem Kabinettstisch lag (oder vielleicht sogar erst hinterher?). Und hofftest, niemand werde gleich erkennen, was er für Berlusconi bedeutet. Im Mediaset-Verfahren wurde Berlusconi verurteilt, weil er 2002 von zu versteuernden 410 Mio. nachweislich 4,9 Mio. hinterzog, und 2003 von 312 Mio. 2,6 Mio. – die noch viel höheren Unterschlagungen in den Jahren zuvor waren dank seiner eigenen Gesetze verjährt. Jeder kann nachrechnen: Es waren weniger als die 3 %, bei denen für das neue Dekret erst die Strafbarkeit beginnt! Ab sofort können Berlusconis Anwälte argumentieren: Das Delikt, aufgrund dessen ihr Klient verurteilt wurde, ist nun straffrei. Heute würde er deshalb nicht mehr ins Gefängnis kommen. Also ist das an seine Gefängnisstrafe gebundene 6-jährige Amtsverbot aufzuheben.
Kompliment, Matteo, das war passgenau ausbaldowert. Nach der Sitzung des Ministerrats besaßest Du sogar noch die Chuzpe, Berlusconi anzurufen, um ihm Vollzug zu melden. Als ganz persönliches Weihnachtsgeschenk. Erst als die Sache aufgeflogen ist, hast Du den Rückwärtsgang eingelegt.
Zerschlagenes Porzellan
Zwei Versionen der gleichen Geschichte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein gutes Licht auf Renzi werfen beide nicht. Wenn bei dem Dekret niemand an Berlusconi dachte, hätte Renzi nur unsozial und dilettantisch gehandelt. Die 3 %-Regel begünstigt die reichen Steuerhinterzieher: Bei ihnen wird zur Bagatelle, was kleinere Fische ins Gefängnis bringt. Und dilettantisch ist es, ihre Auswirkung ausgerechnet auf jenen Prominenten zu „vergessen“, der seit Jahrzehnten auf Steuerhinterziehung abonniert ist.
Wenn Renzi aber wusste, wem er mit diesem Dekret unter die Arme griff, wäre es nicht nur ein Halunkenstreich, sondern auch dümmer, als die Polizei erlaubt. Wie konnte er annehmen, der weihnachtliche Coup werde unbemerkt bleiben? Spätestens wenn Berlusconis Anwälte versuchen würden, ihn unter Berufung auf dies in die Steuerreform eingeschmuggelte Detail freizupauken, wäre alles aufgeflogen.
Version (3)
Wer an so viel Dummheit des eigenen Regierungschefs nicht glauben will, hat noch eine dritte Version, die allerdings typisch italienisch „um die Ecke“ gedacht ist: Renzi ist das Opfer einer Intrige. Ein großer Unbekannter hat eine Mauschelei („Inciucio“) inszeniert, die den Italienern als Lieblingsspiel ihrer politischen „Kaste“ bekannt und verhasst ist. Er hat sie bewusst so angelegt, dass sie schnell auffliegen muss. Um ihre angeblichen Hauptakteure zu diskreditieren und deren künftiges Zusammenspiel zu erschweren.
Aber diese Version ist überholt. Denn die professionellen Spurensucher sind fündig geworden: Es war die Leiterin der Rechtsabteilung im Amt des Ministerpräsidenten (das in Deutschland Kanzleramt hieße), die den Passus eingefügt hat. Sie ist eine enge Vertraute Renzis, von der nicht zu erwarten ist, dass sie ohne das Okay ihres Chefs auch nur eine Zeile zu Papier bringt. Wohl um dem Versteckspiel ein Ende zu machen, bei dem es immer mehr auch um Renzis Glaubwürdigkeit ging, hat er nun die Flucht nach vorn angetreten, indem er erklärte, für den Passus selbst verantwortlich zu sein. Dass er dabei an den Deal mit Berlusconi dachte, streitet er weiterhin ab.
Natürlich bleiben Zweifel, und Renzis Ansehen ist weiter beschädigt. Durch die vorläufige Rücknahme des Steuerdekrets hat zwar Renzi erst einmal Zeit gewonnen – aber mit der Erklärung, mit ihm gebe es „weder Gesetze ad noch contra personam“, den Ärger nur aufgeschoben. Bei der Wiedervorlage wird die Linke mit Argusaugen darauf achten, dass die 3 %-Regel gestrichen wird. Dann aber wird die Rechte sagen, dies geschehe „contra personam“. Wenn das Steuerdekret jemals eine Unschuld hatte, so hat es sie jetzt verloren.