Das neue Wahlgesetz
Ein Kernstück von Renzis Reformprogramm ist ein neues Wahlgesetz. Jetzt kann er in diesem Punkt fast Vollzug melden, im Senat ist es so gut wie „durch“. Obwohl erst nächste Woche endgültig darüber abgestimmt wird und das Gesetz auch noch von der Abgeordneten-Kammer verabschiedet werden muss, galt der Senat als entscheidende Hürde, denn dort sind die Mehrheitsverhältnisse knapp. Am vergangenen Mittwoch gab es eine Art Vorabstimmung, welche die Weichen stellte. Bemerkenswert ist erstens die Mehrheit, die hinter dem neuen Gesetz steht, und zweitens dessen Inhalt.
Die „neue Mehrheit“
Auf den ersten Blick war die Mehrheit für das Gesetz komfortabel: 175 dafür, 110 dagegen, 2 Enthaltungen. Aber der zweite Blick zeigt: Mit seiner eigenen Koalition hätte Renzi die Abstimmung verloren. An ihr nahmen 289 Senatsmitglieder teil, die Zustimmungsgrenze lag bei 145 Stimmen. Aber aus der Koalition kamen nur 132 Ja-Stimmen, knapp 30 PD-Senatoren stimmten dagegen. Renzi retteten „Leihstimmen“ aus dem Berlusconi-Lager.
Zeigen sich hier schon die Konturen einer „neuen Mehrheit“, in der ein Teil von Berlusconis FI den wegbrechenden linken PD-Flügel ersetzt? Die Abstimmung hat Renzi politisch geschwächt, denn hier wurde erstmals sichtbar, dass er sein Überleben dem guten Willen Berlusconis verdankt. Der auch gleich frohlockte, wieder in die Schaltzentrale der italienischen Politik zurückgekehrt zu sein, und Gegenleistungen forderte: „politische Handlungsfähigkeit“ und einen neuen Staatspräsidenten nach seinem Gusto. Im Interesse der PD ist dies nicht. Warum verabschiedeten sich die PD-Senatoren aus der Fraktionsdisziplin? Liegen die Gründe in der Sache, d. h. im neuen Wahlgesetz?
Das Gesetz
Als Renzi und Berlusconi vor einem Jahr über ein neues Wahlgesetz verhandelten – das alte hatte das Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt -, waren sie sich sofort in einem Punkt einig: Um der „Regierbarkeit“ willen muss es auch weiterhin eine Mehrheitsprämie geben, die dem relativen Sieger die Mehrheit der Parlamentssitze sichert. Da das alte Wahlgesetz u. a. deshalb verfassungswidrig war, weil es keine Mindestgrenze für das Erreichen der Prämie vorschrieb – 2012, als noch mit dem alten Wahlgesetz gewählt wurde, bekam das Mitte-Links-Bündnis in der Abgeordnetenkammer mit 29,5 % der Stimmen 55 % der Sitze -, soll es jetzt ein zweistufiges Verfahren geben: Die Mehrheitsprämie erhält der relative Sieger nur, wenn er mindestens 40 % der Stimmen bekommt. Sonst gibt es zwischen dem ersten und dem zweiten Sieger eine Stichwahl, und erst ihr Sieger bekommt die Prämie.Blieb die Frage, wer „prämiert“ werden soll: das stärkste Bündnis oder die stärkste Partei. Hier gab es die erste Auseinandersetzung: Berlusconi war für das stärkste Bündnis, um damit die kleineren rechten Abspaltungen und vor allem die Lega in ein von ihm geführtes Bündnis zu zwingen. Renzi setzte jedoch die stärkste Partei durch. Was sich für Berlusconi mit einer Horrorvision verbindet: Wenn bei der nächsten Wahl Renzis PD stärkste Partei wird, aber unter 40 % bleibt, könnte sie mit Grillos 5-Sterne-Bewegung in die Stichwahl gehen (nach den gegenwärtigen Prognosen liegt Berlusconis FI auch hinter Grillos 5-Sterne-Bewegung).
Ein weiterer strittiger Punkt war die hohe 8 %-Hürde, die Berlusconi ursprünglich für Parteien „ohne Bündnis“ einführen wollte. Dies hätte die Repräsentativität des Parlaments, die schon durch die Mehrheitsprämie eingeschränkt wird, weiter vermindert. Aber auch hier setzte er sich nicht durch: Jetzt sollen 3 % genügen, um ins Parlament zu kommen.
Der Streit um die „Präferenzen“
Schließlich ging es darum, wieviel Persönlichkeitswahl das neue Wahlrecht zulassen soll. In Berlusconis autoritäres Parteikonzept passt nur die von oben diktierte Kandidatenliste, während die PD-Linke auf eine zusätzliche Wahlmöglichkeit durch „Präferenzstimmen“ drängt. Hier war das Ergebnis ein Kompromiss: In den 100 Wahlkreisen, die es in Italien gibt und in denen jeweils mehrere Abgeordnete zu wählen sind, ist der Listenführer „gesetzt“ – erhält eine Partei im jeweiligen Wahlkreis die nötigen Stimmen, ist er auf jeden Fall gewählt. Erst wenn es noch genügend Stimmen für weitere Kandidaten gibt, werden sie nach „Präferenz“ vergeben. Ergebnis: Bei kleineren Parteien überwiegen die Gesetzten, bei den größeren Parteien – vor allem bei der, die die Mehrheitsprämie erhält – die Ungesetzten. Dass die Entscheidung über die Listenführer weiterhin Berlusconis Prärogative bleibt, war für ihn seine letzte Minimalbedingung. Renzi hat sie akzeptiert.
Genau an dieser Stelle gab es nun heftigen Widerstand aus der PD selbst, der der Koalition bei der Abstimmung die Mehrheit kostete. Es ist zwar nur eine Minderheit, die aus der Forderung, auch die Listenführer in die Präferenzwahl einzubeziehen, eine Glaubensfrage macht. Deren „garantierte“ Wahl beschränke das Recht, mit der Partei auch eine Person wählen zu können, und sei ein nicht hinnehmbares Zugeständnis an den Berlusconismus, d.h. an einen autoritären Parteiapparat, der seine Abgeordneten dadurch diszipliniert, dass er ihnen mit dem Entzug ihres „sicheren“ Listenplatzes bei der nächsten Wahl drohen kann.
Hätte Renzi diesen Kompromiss ablehnen müssen? Es gab gute Gründe, für ein neues Wahlrecht eine möglichst breite parlamentarische Basis anzustreben. Außerdem drohte als Alternative ein Verhältniswahlrecht, welches das in drei Lager gespaltene Italien auf Jahre hinaus die Zwangsehe mit Berlusconi beschert hätte. Renzis Argument, dass man jetzt mit Berlusconi einen Kompromiss finden solle, um ihn nach der nächsten Wahl los zu werden, ist kaum zu widerlegen. Andererseits könnte die mit dem Kompromiss verbundene Möglichkeit, die eigenen Abgeordneten zu disziplinieren, auch Renzi willkommen sein. Die PD ist immer noch eine Partei streitlustiger Lokal- und Regionalfürsten.
Und schließlich haben auch die „Präferenzen“ ihre Vorgeschichte. Es gab sie schon in den guten alten DC-Zeiten. Das bot den Ansatzpunkt für viele Manipulationen, zur Freude auch der Mafia, die kräftig mitverdiente.
Keine vernünftige Alternative
Rechtfertigt der Kompromiss über das neue Wahlgesetz das Ausscheren der PD-Linken? In der Frage, wer die Prämie bekommen soll (Bündnis oder Partei), bei den Hürden für kleine Parteien und in der Gender-Frage (auf den Kandidatenlisten in den Wahlkreisen müssen abwechselnd Männer und Frauen erscheinen) setzte sich Renzi gegen Berlusconi durch. Zwar opfert die Mehrheitsprämie ein Stück demokratischer Repräsentativität, aber das beklagt nur die 5-Sterne-Bewegung. Warum kapriziert sich also die PD-Linke auf die Wiedereinführung der „Präferenzen“? Geht es ihr noch um das neue Wahlgesetz, oder sucht sie jetzt – aus Zorn oder Kalkül – den Showdown mit Renzi?