Dresden und Lampedusa
Dresden ist eine Großstadt im Herzen Deutschlands mit ca. 530.000 Einwohnern. In ihr leben derzeit ca. 2.300 Flüchtlinge, das entspricht einem Anteil von 0.4 %. Die kleine Mittelmeerinsel Lampedusa hat ca. 6.300 Einwohner. Auf ihr leben im Moment ca. 3.000 Flüchtlinge, das entspricht einem Anteil von gut 32 %. Es ist schon vorgekommen, dass auf der Insel mehr Flüchtlinge waren als Einheimische.
In der deutschen Großstadt gehen Tausende auf die Straße, weil sie – so sagen sie – Angst vor der „Überfremdung“ und „Islamisierung“ ihrer Heimat haben. Auf der Mittelmeerinsel gehen die Einwohner auf die Straße, um für die Flüchtlinge, die im Meer vor ihrer Küste ihr Leben verloren, Blumen niederzulegen.Die Wahrscheinlichkeit, dass die Einwohner Dresdens je mit einem Flüchtling oder Einwanderer in Berührung kommen, ist nicht hoch. Anders als zum Beispiel in Berlin, wo die Begegnung mit Menschen anderer Herkunft zum Alltag gehört. Und ganz anders als auf Lampedusa, wo die Einwohner tagtäglich erleben, wie Tausende von Flüchtlingen an ihrer Küste landen. Nicht nur als Lebende, sondern auch als Tote.
Von Sorgen und Ängsten – hier und dort
Die Meinung liegt nah, dass die Menschen in Berlin oder erst recht auf Lampedusa mehr Grund haben, sich über ein Zusammenleben mit Flüchtlingen und Migranten zu sorgen, als die in Dresden. Aber es sind die „verängstigten Bürger“ von Dresden, die allwöchentlich ihrer Wut und ihrem Hass gegen „die Fremden“ – ganz besonders gegen die muslimischen Glaubens – Luft machen. Dass sie bisher nie einen Moslem zu Gesicht bekommen haben: na und? Es könnte ja in Zukunft passieren, dass sie einem solchen begegnen. Das sei schon schlimm genug. In Dresden ist man prophylaktisch verängstigt.
So verängstigt, dass beim Anblick einer fremd oder gar muslimisch aussehenden Mutter, die sich mit ihrer kleinen ebenfalls fremd oder gar muslimisch aussehenden Tochter an der Hand in den Supermarkt wagt, diese mit wutverzerrtem Gesicht angeschrien wird, sie solle sich sofort verpissen, sie solle verrecken, die Drecksau. Anspucken kommt auch vor. Androhen von Schlägen ebenfalls. Einige der wenigen Migranten, die das Unglück haben, in Dresden zu leben, erzählen, dass sie sich – besonders montags – kaum aus dem Haus trauen. Weil sie die besorgten Dresdener Bürger nicht noch mehr verängstigen wollen.
Auf Lampedusa sind die Bürger auch besorgt. Sie machen sich Gedanken, wie es weitergehen soll, wenn ihre wunderschöne Insel, die immer vom Tourismus lebte, inzwischen fast touristenfrei ist. Denn welche Reisegesellschaft bietet Urlaub auf einer Insel an, an deren Küste in regelmäßigen Abständen Leichen angespült werden? Das verdirbt dem fröhlichsten Spaßvogel die Urlaubslaune. Und da nützt es auch wenig, dass sich Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini bemüht, nicht nur die natürlichen Schönheiten ihrer Insel, sondern auch das große Herz und die Hilfsbereitschaft ihrer Bewohner anzupreisen. Wenn jemand nach Lampedusa reist, dann sind es Menschen, die auch helfen wollen: Ehrenamtliche, engagierte Jugendliche, Künstler, die mit den traumatisierten Flüchtlingskindern malen oder Musik machen. Also Weltverbesserer, die für das Tourismusgeschäft nicht gerade kassenfüllend sind.
Wenn jemand Grund hätte, wegen der wachsenden Flüchtlingszahlen besorgt und vielleicht auch verängstigt zu sein, dann sind es die Lampedusaner. Aber da gibt es bisher keine Pegida, oder meinetwegen Lagida. Da gibt es Menschen, die – obwohl sie selbst alles andere als wohlhabend sind – Kleider und Lebensmittel in das hoffnungslos überfüllte Aufnahmezentrum bringen, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ihre Wohnungen aufnehmen und die trauern, wenn Flüchtlinge auf dem Weg zur Insel sterben. Und ihre Wut und Unzufriedenheit nicht gegen die Opfer richten, sondern gegen die Versäumnisse der politisch Verantwortlichen und die Weigerung Europas, gemeinsam humane Wege aus dem Flüchtlingselend zu suchen.Von mitfühlenden Politikern
Ich möchte nicht darüber spekulieren, was die besorgten Bürger in Dresden von denen auf Lampedusa unterscheidet. Und ja: Ich weiß auch, dass es „die Dresdner“ und „die Lampedusaner“ nicht gibt. Aber die Fakten muss man beim Namen nennen. Und ja: Ich finde es unerträglich, wenn sich Politiker in Deutschland – aus unterschiedlichen Parteien – bei den „verängstigten Bürgern“ von Pegida, Legida und Hagida anbiedern und mit kummervoller Miene ihr Verständnis für deren „berechtigte Sorgen“ äußern. Angst wovor? Verständnis wofür? Die Bürger fühlen sich von der Politik nicht mehr vertreten, nicht mehr ernst genommen, heißt es. Ok. Mag sein. Aber was können die Flüchtlinge und Migranten dafür, die auf den Pegida-Demos und den einschlägigen Facebookseiten mit übelster rassistischer Hetze angegriffen werden – so übel, dass ich mich weigere, das überhaupt wiederzugeben?
Man könnte den „Dialog mit den besorgten Bürgern“ auch so führen, dass man sie mit diesen Fragen und mit ihren eigenen xenofoben Wahnvorstellungen konfrontiert. Es gibt Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft, die es tun. Aber es gibt auch eine Sorte „mitfühlender“ Politiker, die das gerade nicht tut und – wenn auch indirekt – der rassistischen Hetze und dem Fremdenhass eine soziale Legitimation verschafft.
Gerade hat Papst Franziskus den Frauen und Männern der italienischen Küstenwache, die vor einigen Tagen wieder ihr Leben einsetzten, um die in Seenot geratenen Flüchtlinge zu retten, und der gesamten Bevölkerung von Lampedusa seinen Dank ausgesprochen. Es wäre nicht verkehrt, wenn das Gleiche auch Politiker aller deutschen Parteien täten. Dafür und für die Solidarität mit den Opfern sollten sie ihre Empathie aufbringen. Nicht für die paranoiden Fremdenängste von Pegida-Anhängern.