Pietro Ingrao wird 100
Als ich im Sommer 1968 zusammen mit einer kleinen Gruppe deutscher Studentenbewegter zum ersten Mal Pietro Ingrao begegnete, entsprach er nicht der Vorstellung, die ich mir bis dahin von den Führungsfiguren westlicher kommunistischer Parteien gemacht hatte: etwas engstirnige, in der Politik aufgehende magensaure Kämpfertypen. Wir trafen ihn in Lenola, seinem Geburtsdorf südlich von Rom, wo er seinen jährlichen Sommerurlaub verbrachte. Er kam in seiner kurzen Sommerhose auf uns zu, und statt der erwarteten Anrede „Compagni“ wandte er sich an die einzige Frau in unserer Gruppe (die nicht wusste, wie ihr geschah), um mit lächelnder Galanterie und schwerem Akzent auf Deutsch zu rezitieren: „Du bist wie eine Blume, so hold und schön und rein; ich schau dich an, und Wehmut schleicht mir ins Herz hinein“. Dies war der ganze Ingrao: ein Mensch, den alle Welt als politischen Profi kannte und der darin trotzdem nicht aufging, der leidenschaftliche Liebhaber von Bach, der in seiner Jugend dem Filmemacher Visconti assistierte. Und der noch im Alter drei Lyrikbände herausbringt, weil für ihn die Sprache des Tuns zu arm ist, um die ganze Lebensfülle, die sich auch ohne das Machen erschließt, zu fassen.
Der „Movimentista“
Für den am 30. März 1915 geborenen Ingrao wird der Spanische Bürgerkrieg (an dem er nicht teilnahm) zum politischen Damaskus. Ende der 30er Jahre stößt er zur illegalen KPI, lebt einige Jahre im Untergrund (was in Italien hieß: in den Bergen) und beteiligt sich an der Resistenza gegen die italienischen Faschisten und die deutschen Besatzer. Nach der Befreiung übernimmt er für ein Jahrzehnt die Leitung der Parteizeitung Unità, die er vorher schon illegal herausgegeben hatte. 1948 geht er als Togliattis „Kronprinz“ ins Parlament. Er wird Mitglied des Direktoriums der KPI und 1976 italienischer Parlamentspräsident.
Aber schon ab Mitte der 60er Jahre wurde er zum Anführer einer Partei-„Linken“, die sich im Dissens mit der Mehrheit befindet. Wobei „links“ im damaligen italienischen Kontext eine andere Bedeutung hatte als z. B. in Westdeutschland. Während man diejenigen zur Partei-„Rechten“ rechnete, die ihre politische Hauptaufgabe darin sahen, in den parlamentarischen Gremien zu arbeiten, und trotzdem nach einem modus vivendi mit den realsozialistischen Bruderparteien suchten, gehörten zur „Linken“ diejenigen, die am entschiedensten mit dem realen Sozialismus brachen und auf Demokratie und Bewegungen von unten setzten. Und sich am frühesten für die neuen Bewegungen – die 68er, die Ökologie, den Feminismus – öffneten. So erhielt Ingrao das Etikett des „Movimentista“, des Auf-die-Bewegungen-Setzenden. Sein erster Konflikt mit der Mehrheitslinie der Partei brach in einer Frage auf, die „formal“ erscheinen kann: Auf dem 11. Parteikongress von 1966 forderte er die Öffentlichkeit der parteiinternen Auseinandersetzungen, was ihn in heftigen Widerspruch mit dem späteren Parteisekretär Berlinguer bringt.
Der Dissident
Hier beginnt die Geschichte seiner Dissidenz, die ihn aber nicht nur in Konflikt mit der Parteilinie, sondern auch mit den „Linken“ bringt, die sich auf ihn berufen und „Ingraiani“ genannt werden. Denn während diese „Linken“ in Gestalt der Manifesto-Gruppe aus der Partei geworfen wurden, blieb er zunächst „drinnen“, was damals manchem als Verrat erschien. 1990 wurde für ihn zum Jahr seines letzten großen Kampfes in der KPI. Die Parteimehrheit will auf den weltweiten Zusammenbruch des realen Sozialismus damit reagieren, dass sie aus ihrem Namen das Wort „kommunistisch“ streicht. Ingrao antwortet, dass zwar die KPI einer radikalen Erneuerung bedürfe (für die er jahrzehntelang kämpfte), dass aber diese Streichung den Verzicht auf jede über den Kapitalismus hinausweisende Perspektive bedeute. Er unterliegt, entschließt sich aber noch einmal zum Bleiben. Wenige Monate später stemmt er sich gegen die Unterstützung des ersten Golfkriegs durch Italien, wiederum im Dissens mit der Mehrheit. 1993 tritt er aus der Partei aus.
Der Mensch
Was mich an Pietro Ingrao fasziniert, ist vor allem der Mensch. Den ich nie ganz zu fassen bekam. Als er Parlamentspräsident war, versuchte ich ihn damit aufzuziehen, dass er für die Parlamentarier den Krawattenzwang einführte. Er antwortete ernst, dass es dabei um den Respekt vor der demokratischen Institution gehe. Der gleiche Mann kämpft zwei Jahrzehnte später darum, die Perspektive des „Kommunismus“ offenzuhalten, obwohl dessen Utopie, wenn ich sie richtig verstanden habe, Vermittlungen wie Parlamente oder Krawatten gerade überwinden will, und tritt auf seine alten Tage noch einer kommunistischen Splitter-Gruppe bei (die er dann schnell wieder verlässt). Er hofft auf Bewegung, nicht auf Utopien. In den letzten Jahren wird er, der ehemalige Resistenza-Mann, zum Pazifisten. Den Einwand, was man denn mit Hitler-Deutschland hätte machen sollen, hört er sich an. Aber bleibt dabei.
Sein Kampf darum, dass ein öffnender Ausweg aus dem Kapitalismus bleibt, macht ihn halsstarrig. Dabei ist für ihn Offenheit nicht nur Prinzip, sondern Lebensweise. Wenn wir ihn besuchen, müssen wir Bericht erstatten über „la grande Germania“ (und wissen nie genau, wie ironisch das gemeint ist), über die deutsche Wirtschaft, Angela Merkel, die SPD. Vor anderthalb Jahren, berichtet Alessandra Longo in der „Repubblica“, besucht ihn Walter Veltroni zu einem letzten großen Interview. Pietro Ingrao dreht die Situation um: Nun war er es, der 98-Jährige, der Veltroni ausfragte. Nur wenn er Bach hört, entzieht er sich allem.
Von ihm stammt in einem seiner Lyrik-Bändchen der Zweizeiler: „Pensammo una torre. Scavammo nella polvere“ („Wir erdachten uns einen Turm. Wir gruben im Sand“). Auch wegen dieser Verzweiflung liebe ich ihn. Obwohl ich weiß, dass er sich nicht einmal auf sie festlegen lassen würde.
Jetzt ist er alterskrumm und müde, unendlich müde. An den Feiern im römischen Parlament und auch in seinem Geburtsdorf, die zu seinem Hundertsten anstehen und sein Monument meißeln, wird er nicht teilnehmen. Auguri, Pietro.