Es ist Mord

barcone2In der Nacht vom Samstag zum Sonntag kam es zur bisher größten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Ein Fischerboot, das nach ersten Aussagen von Überlebenden etwa 700, nach anderen sogar 920 Flüchtlinge an Bord hatte, kenterte im Kanal von Sizilien. Das Unglück geschah 120 Seemeilen südlich von Lampedusa, als das Fischerboot gerade libysches Gewässer verlassen hatte. Samstagabend schickte es wegen Navigationsproblemen einen Notruf an die italienische Küstenwache, die ein in der Nähe befindliches Frachtschiff aufforderte, sich an den Unglücksort zu begeben. Als es kam, kenterte das Fischerboot – wahrscheinlich weil sich in Erwartung des Frachters alle Flüchtlinge auf die eine Seite des völlig überladenen Fischerbootes drängten. Bisher wurden nur 28 Überlebende gerettet.

Prantls Artikel in der „Süddeutschen“

Heribert Prantl schrieb am Samstag dem 18. April, als er von der neuesten Tragödie noch nichts wusste, in der „Süddeutschen“ einen guten Kommentar zur gegenwärtigen Asylpolitik (http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du-sollst-nicht-toeten-1.2439653). Aber in einem Punkt ist eine Ergänzung notwendig: Nachdem er vorher zu Recht geschrieben hatte „Diese Union tötet; sie tötet durch Unterlassen, durch unterlassene Hilfeleistung“, ringt er sich im letzten Satz zu der Feststellung durch: „Eine Union, die das Meer als ihren Verbündeten begreift und einsetzt, ist eine mörderische Union“. Also „mörderisch“, vor dem Substantiv „Mord“ schreckt er noch zurück. Dazu jedoch zwei Details: Die EU nimmt den Tod Tausender von Menschen nicht nur fahrlässig in Kauf. Sie tut es billigend. Mehr noch: Sie tut es planmäßig. Prantl beschreibt es eigentlich selbst: Indem man aus den Fluchtländern legal nur mit Visum nach Europa kommt, dieses aber im Normalfall verweigert wird, schickt man die Menschen, die trotzdem flüchten, im vollen Bewusstsein der zu erwartenden „Kollateralschäden“ auf die Todesroute. Spätestens seit der Katastrophe, die sich vor anderthalb Jahren vor Lampedusa ereignete, kann man nicht mehr behaupten, es nicht gewusst zu haben.

Hier geht es auch um Schuld

Ich bin kein Jurist, aber habe dafür kein anderes Wort: Das ist Mord. Tausendfacher Mord. Bei dem man endlich auch über Schuld reden muss. Schuld trägt die Europäische Union. Schuld tragen die europäischen Regierungen. Insbesondere auch die deutsche Regierung – sage niemand, sie habe in Europa keinen Einfluss. Innenminister Thomas de Maizière trägt Schuld, der alles so weiterlaufen lassen will, wie es ist. Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD tragen Schuld: die CDU/CSU, die mit dieser Politik vielleicht einen großen Teil ihrer Stammwähler bedient, aber das „Christlich“ besudelt, das sie in ihrem Namen trägt. Und die SPD, die sich vor all dem feige wegduckt, weil sie wohl meint, dass man mit diesem Thema „keine Wahlen gewinnt“. Aber nicht nur die Politiker „da oben“ sind schuld, sondern wir alle, die wir uns nicht zu einem einzigen großen Aufschrei vereinen: Hört sofort auf!

Solange wir dies nicht tun, werden die Türen Europas, an die die Flüchtlinge klopfen, in unserem Namen zugehalten. Vor diesen Türen krepieren sie wie die Fliegen. Wir wissen es und halten uns Augen und Ohren zu. Die Türen werden in meinem Namen, in unser aller Namen zugehalten. Im Namen der Werte des Abendlands, die wir (und das wir) gegen sie verteidigen.

PS:
Die Toten bleiben für die italienischen Xenophoben ein Spekulationsobjekt. Der mit Le Pen verbündete Lega-Chef Salvini sagt, Renzi sei Schuld, denn er hätte längst eine Seeblockade über die nordafrikanischen Küsten verhängen müssen, damit von dort überhaupt kein Schiff mehr auslaufen kann. Die FI-Heroine Santanchè geht einen Schritt weiter: Renzi habe versagt, denn er hätte längst alle libyschen Fischerboote auf Grund setzen müssen. Beide wollen das Problem bereits an der libyschen Küste lösen, also 1) im Ausland und 2) militärisch. Das liegt in der Logik der Abschottung, und es hat Tradition.

Renzi spricht davon, dass man dringend die EU einschalten müsse. Wird man über eine wirkliche Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik sprechen, wie sie Martin Schulz fordert? Wenigstens über eine europäische Neuauflage von Mare Nostrum? Was Prantl fordert, fordern auch viele Flüchtlingsorganisationen und geht eher an die Wurzel des Problems: „Die EU muss legale Einreisewege schaffen. Die EU muss die Visumspflicht für gewisse Zeit aufheben. Die EU muss Asylanträge schon in den Herkunftsländern entgegennehmen. Flüchtlinge aus den Höllenstaaten müssen in EU-Staaten angesiedelt werden“. Zu befürchten ist jedoch, dass nichts anderes herauskommt als der neuerliche Beschluss, noch härter gegen die Schlepper vorzugehen. Also noch mehr Abschottung. Und das Sterben wird weitergehen.