Die Linke der Linken
Zuvor zwei Klarstellungen. Die erste: Wer und was ist heute die „Linke der Linken“? Früher gab es davon in Italien sogar zwei, die sich unversöhnlich bekämpften, aber verschiedene Flügel der gleichen KPI bildeten: die orthodoxe Linke, die im Gegensatz zur „eurokommunistischen“ Mehrheit besonders moskautreu war und noch irgendwie am Ziel der Diktatur des Proletariats festhielt, und die „Bewegungslinke“, die in den demokratischen Institutionen einen Fortschritt sah, an dem man festhalten müsse, aber für die gewünschte gesellschaftliche Transformation auch die Umwelt- und Frauenbewegung in die von ihr unterstützten sozialen Bewegungen aufnehmen wollte. Von beiden Linken gibt es heute nur noch Trümmer. Wenn ich trotzdem noch von der „Linken der Linken“ spreche, so meine ich heute vor allem Leute, die biografisch aus der früheren „Bewegungslinken“ stammen, heute aber eine andere Identität gefunden haben. Welche, ist Gegenstand dieses Artikels.
Die zweite Klarstellung: Dieser Artikel ist eine Polemik. Es gibt sicherlich Vertreter der Linken, auf die vieles von dem, was ich in diesem Zusammenhang behaupte, nicht zutrifft. Trotzdem, so meine ich, trifft er eine reale Tendenz.
Eine Einladung ins Grüne
Vor ein paar Jahren waren wir bei Bekannten eingeladen, die an der Peripherie von Rom wohnen, eigentlich schon in der Campagna. Als wir ihr Domizil nach einstündiger Autofahrt erreichten, erlebten wir eine Überraschung: Es liegt mitten im Wald, auf einer Anhöhe, von dessen Rand aus man einen weiten Blick hinunter ins Tiber-Tal hat, mit der glitzernden Schlangenlinie des Flusses in der Ferne. Die zweite Überraschung war, dass es zu einer Siedlung gehört, in die man nicht so ohne weiteres hineinkam. Sie war umzäunt, und wir mussten ein Tor passieren, in dem Wachleute saßen. Sie hielten uns an und riefen erst einmal bei den Bekannten an, denen unser Besuch galt. Dann winkten sie uns durch, und wir fuhren an Vorgärten vorbei, in denen Schäferhunde bellten und in deren Hintergrund geschmackvoll gebaute Villen standen. Eine Siedlung, die ich bis dahin nur aus den Medien kannte und in Johannesburg oder den USA, aber nicht am Rande von Rom vermutet hätte. In der sich die obere Mittel- gegen die Unterschicht und sonstige Gefahren verteidigt.
Der Pranzo, mit dem uns die Frau des Hauses erwartete, war von der Art, die nicht nur meine Frau, die Kennerin, mit der Zunge schnalzen ließ. Vor allem erinnere ich mich aber an den Verdauungsspaziergang, den wir nach dem abschließenden Dolce und Espresso durch die Villen-Siedlung machten, vorbei an den uns misstrauisch beäugenden Schäferhunden und hin zu einem herrlichen Aussichtspunkt auf das Tal. Denn da wurde unsere Plauderei politisch, und der Hausherr, den ich hier Carlo nenne, legte dar, wie unerträglich nicht nur die Regierung (damals noch Berlusconi), sondern auch die verräterisch kompromisslerische PD sei. Halbwegs akzeptabel sei eigentlich nur die SEL, Vendolas kleine „linke“ Partei. Eine Ansicht, die mir damals durchaus plausibel schien, weil die SEL für die Rechte der Umwelt und der Homosexuellen kämpfte und wir junge SEL-Aktivisten kannten, die einen heroischen Kampf gegen die von Berlusconi betriebene Privatisierung des Wassers führten. Diese Partei, so meinte auch ich, sei ein notwendiges Korrektiv zu der verknöcherten PD. Etwas merkwürdig fand ich allerdings das Ambiente des Gesprächs, obwohl ich natürlich wusste, dass nicht alle Anhänger der SEL in solchen Verhältnissen leben.
Räsonnement als Selbstzweck
Inzwischen ist viel Wasser den Tiber heruntergeflossen. Nun ist der „pseudolinke“ Renzi an der Macht, und die Linken in meiner Bekanntschaft sind nicht mehr Berlusconis, sondern seine Feinde. Als solche sind sie noch höchst lebendig und aktiv, auch wenn sie ein wenig älter geworden sind und Vendolas Stern verblasst ist. Jetzt nutzen sie Facebook zur Selbstverständigung. Dieser permanente Prozess ist es, der sie verbindet und zusammenhält – und der es vermutlich auch Leuten wie Carlo ermöglicht, weiterhin zu ihnen zu gehören.
Das Ziel dieser Gemeinschaft ist nicht mehr die gesellschaftliche Transformation, sondern das kostbare Gut wechselseitiger Anerkennung. Will man in sie aufgenommen werden, muss man am politischen Räsonnement leidenschaftlich interessiert, an realer Veränderung aber eher desinteressiert sein. Es genügt, sich wechselseitig zu bestätigen, rein und im Recht zu sein. Man verständigt sich darüber, was „in Wahrheit“ der Fall ist – z. B. dass Renzi nicht besser als Berlusconi sei, vielleicht sogar noch „schlimmer“. Dies hat zwar wenig Realitätsbezug, aber stiftet Identität. Eugenio Scalfari, der über 90-jährige Herausgeber der „Repubblica“, dachte offenbar an die gleiche Linke, als er vor drei Tagen in seinem sonntäglichen Editorial (das respektslos auch „messa cantata“ genannt wird) eine Anekdote erzählt, die er bei Umberto Eco fand: Eine Dame, die mit dieser Linken sympathisiert, habe nach einem Wahlsieg der PD höchst erfreut ausgerufen: „Wie schön, jetzt können wir endlich Opposition vom Feinsten machen!“Die Dame hat ja Recht. Um der eigenen Reinheit willen muss man darauf achten, immer Opposition zu bleiben. Wer regieren und verändern will, lässt sich ja auf die Dinge ein. Er kommt in die unerfreuliche Lage, Bündnisse, Kompromisse und Risiken einzugehen und dafür auch noch Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Logik des kleineren Übels ist Inbegriff alles Verachtenswerten.
Selbstbetrug
Scalfari und Eco meinen, diese Haltung habe weit zurückreichende historische Wurzeln. Die Erfahrung, dass Macht korrumpiere, habe bei dieser Linken zur tiefen Überzeugung geführt, es sei ihre moralische Pflicht, sich jeder Kontamination durch die Macht zu entziehen. Ich denke allerdings, dass letzteres bereits zum Selbstbetrug geworden ist. Denn nicht nur die PD, sondern inzwischen auch die SEL zeigt sich vielerorts von der Korruption infiziert (von Berlusconi rede ich nicht, er ist die Korruption). Könnte die gemeinschaftliche Selbstbestätigung, welche die heutige Linke der Linken charakterisiert, sie nicht auch dagegen immunisieren, dass sie ihre eigenen Verstrickungen überhaupt noch wahrnimmt? Was ihnen umso mehr Raum gibt? Carlo, denke ich, ist nicht korrupt. Aber auch ihm hilft diese ständige Selbstbestätigung darüber hinweg, in der eigenen Lebensweise ein Problem zu sehen.
Es ist riskant, die Verhältnisse verändern zu wollen. Aber noch riskanter ist es – auch für einen selbst -, auf ihre Veränderung zu verzichten. Gerade auch, wenn dies im Namen moralischer Reinheit geschieht.
Gerne möchte ich dem Autor widersprechen, aber es
gelingt mir nicht. Eine ähnliche Schockerfahrung wie sie hier von der ‚Gated
Community‘ in der Nähe von Rom geschildert wird, hat ich auch vor einigen Jahren am
Lago di Bracciano. Dort war ich hingefahren, um etwas zu dem Italien-Aufenthalt
meiner Mutter in den dreissiger Jahren zu recherchieren. Über einen Leserbrief
in der ( damals noch existierenden ) Zeitschrift „Il Diario“ hatte ich Kontakt
zu Lesern bekommen, die sich in dieser wunderschönen Gegend scheinbar gut
auskannten. Sie luden mich auch ein, sie in Viccarello zu besuchen. Zwar
erwartete mich dort kein Palazzo sul Lago, aber ein mondänes Anwesen war es
schon. Und beim abendlichen ‚Cena‘ wurde ich dann einmal so richtig von den
‚Compagni‘ ( „Siamo tutti compagni“ ) über Berlusconi und meine Illusionen über
‚La sinistra‘ aufgeklärt. Und die ‚bella serata’ endete dann natürlich mit dem
Austausch nostalgischer Erinnerungen an die Universitätsstreiks und Demos der
späten sechziger, siebziger Jahre…
Zeitsprung: in Ferrara gehe ich heute schon einigen mir bekannten ‚Compagni‘
aus dem Weg, weil mich ihr Rosenkranz an Spott und Lamenti über „Renzi e tutti
quanti“ langweilt. Wunderbar passend dazu das ausgesuchte Bild über die
‚Selbstbespiegelung‘ in dem Beitrag. Aber es ist nicht nur die
‚Selbstbespiegelung‘, die die Distanz zu einigen ‚Compagni‘ ( nicht zu allen )
wachsen läßt. Es sind auch die unglaublich eingefrorenen Weltbilder mit denen
sie sich in ihren ‚gated Communities‘ immer wieder zu bestätigen versuchen. Als
ich mich über die Wahl von Bergoglio zum neuen Papst gefreut habe, wurde mir
sofort ein Messagino geschickt: „Hanno votato per un amico della Giunta
argentina“. Und wie befreiend habe ich dann Deine Kommentare gelesen, in denen
Du versucht hast in der Tradition Gramscis ( so sehe ich es jedenfalls ) die
Bedeutung dieser Papstwahl auch für die italienische Gesellschaft sehr
differenziert abzuwägen. Vielleicht hat Garber ja tatsächlich recht mit seiner
berühmten Canzone „La nostra generazione ha perso“. Oder um an den
resignierend-hoffnungsvollen, von Ernst Bloch gerne zitierten Ruf aus den
deutschen Bauernkriegen zu erinnern: „Geschlagen ziehen wir nach Haus/ Die Enkel
fechten’s besser aus“. Über die ‚Enkel‘ hätte ich übrigens gerne mehr in diesem
‚Intervento‘ gelesen
Ich muss es einmal sagen: jedesmal, wenn ich einen Beitrag „Aus Sorge um Italien“ lese, bewundere ich die fundierte Kenntnis der italienischen Verhältnisse des Autors und bin
darüber hinaus natürlich auch sehr erfreut, meine Sicht der Dinge voll und ganz bestätigt zu erhalten.
Ganz besonders in dem Aufsatz „Die Linke der
Linken“. Ich lebe seit Jahren in Italien und vermeide
es in letzter Zeit immer öfters mit meinen linken Freunden über Politik zu reden.
Für mich zeigt Ihr interessanter Artikel vor allem eins: In Italien fehlt eben überall der Sinn für das Gemeinwohl. Auch da, wo man ihn vermuten sollte – eben links.