Jenseits der Schamgrenze
Wir Europäer sind nun einmal zart besaitet. Die Menschenrechte halten wir hoch, so lange es uns nicht viel kostet, und wir sehen es ungern, wenn Menschen beim Versuch, sich zu uns zu retten, direkt vor unserer Nase krepieren. Wenn es schon geschehen muss, dann bitte außer Sichtweite. Wir wollen ja nicht in der Tagesschau sehen, wie in den Schlachthäusern die Tiere ausbluten, denen wir unsere Saltimboccas verdanken. Unsere Regierungen wählen wir auch dafür, dass sie zartfühlend unseren Wunsch nach Harmonie und Wärme hüten.
Der Khartum-Prozess
Unsere Regierungen tun dafür, was sie können, und geben diesem Tun so nervenschonende Namen wie beispielsweise „Khartum-Prozess“. Khartum ist die Hauptstadt des Sudans, aber aus der Taufe wurde dieser „Prozess“ am 28. November 2014 in Rom gehoben, wo sich Vertreter von 58 europäischen und afrikanischen Staaten versammelten, um über die Flüchtlingspolitik der nächsten Jahre zu debattieren. Das klang harmlos, zumal Außenminister Steinmeier ganz humanitär verkündete, das Hauptziel der geplanten Aktivitäten sei die Verbesserung der Verhältnisse in den afrikanischen Ländern, welche die Flüchtlingsströme durchqueren, bevor sie die Küste Nordafrikas erreichen.
Etwas hellhöriger hätte man allerdings werden können, als der deutsche Innenminister am gleichen Tag erklärte, es sei das Ziel, die „illegale Migration“ durch diese Länder zu verhindern. Was illegal ist, gehört bekanntlich verboten, und zwar in allen Ländern, auch wenn der Migration eigentlich erst an den Grenzen Europas das Zeichen der „Illegalität“ eingebrannt wird. Dem haben sich nun gefälligst auch die Transitländer anzuschließen. Und dann fügte er etwas hinzu, was so harmlos klingt, dass man es leicht überlesen konnte: Man wolle auch „mit den Herkunftsländern arbeiten, um Fluchtursachen zu mindern“. Man konnte meinen, damit sei wirtschaftlicher und diplomatischer Druck gemeint, um in den Ländern, aus denen heute die Menschen zu Hunderttausenden, wenn nicht Millionen fliehen, die Menschenrechtssituation zu verbessern. Das scheint zwar bei Regimen wie in Eritrea und im Sudan utopisch, aber versuchen kann man’s ja. Auch wenn die Formulierung, dafür mit diesen Ländern „arbeiten“ zu wollen, etwas merkwürdig klingt.
Die Enthüllung von „Monitor“
Die Monitor-Sendung vom 23. Juli hat uns da eines Schlechteren belehrt. Die EU, so kam aufgrund vertraulicher Verhandlungsdokumente heraus, meint damit in erster Linie etwas ganz anderes. Nämlich diesen Regimen zu „helfen“, ihre Grenzen gegenüber der Flucht aus dem eigenen Land dicht zu machen. Dafür sollen die Institutionen der eritreischen Regierung „gestärkt“ und im Kampf gegen die Fluchthelfer unterstützt werden. Und die sudanesischen und südsudanesischen Beamten in einem Trainingszentrum der Polizeiakademie in Kairo im „Migrations“- und „Grenzmanagement“ geschult werden.
Angesichts des Wortes „Management“ kann man nur den Hut ziehen vor dieser Meisterleistung rhetorischen Verwischens. Dabei heißt es im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, dass „die Menschenrechte im diktatorisch regierten Eritrea seit vielen Jahren systematisch verletzt“ werden. Die UN bescheinigt dem Regime, für Folter, willkürliche Verhaftungen, Zwangsarbeit und extralegale Hinrichtungen verantwortlich zu sein. Amnesty International dokumentiert für den Südsudan Massenvergewaltigungen und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, auch seitens der Regierungstruppen. Den Präsidenten des Sudans, Omar-al Bashir, sucht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen Völkermords und Kriegsverbrechen. Eine feine Gesellschaft, mit der sich die EU zusammensetzen will, um sich die Flüchtlinge vom Hals zu halten.Hauptsache außer Sicht
Auch Roger Köppel, der Chef der Schweizer „Weltwoche“, der als Rechtskonservativer durch die deutschen Talkshows tingelt, will uns den Anblick von Flüchtlingen aus Afrika ersparen und sie zu diesem Zweck in Lagern gleich in der Nähe ihres Herkunftslandes kasernieren (ich verbeiße mir das Verb „konzentrieren“). Aber er will das wenigstens noch mit dem Feigenblatt einer Uno- oder EU-Aufsicht garnieren. Die EU lässt auch dieses Feigenblatt fallen. Die Idee ist ebenso einfach wie kostengünstig: Die Länder, aus denen die Menschen fliehen, werden gleich selbst in solche Lager verwandelt, mit den Diktatoren als Lagerkommandanten. „Das Ziel der europäischen Politik ist es, Flüchtlinge fern zu halten – koste es, was es wolle… Die Opfer der Diktatur sollen in der Diktatur bleiben“ (Günter Burkhardt, PRO ASYL).
Hat noch jemand Zweifel? Der EU-Kommissar für Emigration, Dimitris Avramopoulos, tritt ihnen im Monitor-Interview entgegen: „Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir es mit autoritären Regimen zu tun haben, mit Diktaturen. Aber sie bekommen von uns keine politische oder demokratische Legitimation. Wir konfrontieren sie nur mit ihrer Verantwortung“. Welche Verantwortung ist hier gemeint? Mit der gegenüber ihren Völkern konfrontieren wir sie gar nicht erst, da sind wir Realisten. Aber wenn wir sie mit der konfrontieren, uns die Menschen vom Hals zu halten, die aus ihren Ländern flüchten wollen: Das wird sie ins Grübeln bringen. Man kann sich ausmalen, was es für die Fluchtwilligen bedeutet, wenn die Regimes beginnen, dieser „Verantwortung“ nachzukommen.
Dabei wollen uns doch nur der „Christ“ De Maizière und der „Sozialdemokrat“ Steinmeier den Anblick kenternder Boote im Mittelmeer ersparen. Was hinter den Grenzzäunen Eritreas oder des Sudans geschieht, ist weg, ganz weit weg. Schlaf ruhig, Europa. Schlaf ruhig, Italien. Schlaf ruhig, Deutschland.