Die Perspektive der Anderen
Wir skypen gern mit unserer römischen Verwandschaft, aber in den letzten Wochen verging mir dazu zumindest mit einigen von ihr die Lust. Dass die Unterhaltung auch „politisch“ wird, gehört dazu. Normal ist es auch, dass sie sich in der letzten Zeit um Griechenland und die deutsche Politik, um Tsipras, Merkel und Schäuble dreht. Aber obwohl auch ich Kritik an der deutschen Politik habe, spüre ich in manchen Äußerungen aus Rom einen sich verstärkenden Oberton, der darüber hinausgeht.
Die fließende Grenze zum Deutschenhass
Es ist eine zunehmende Wut, bei deren Unversöhnlichkeit ich das Gefühl habe, dass sie nur noch mühsam und eigentlich nur mir zuliebe, der ich ja auch ein „Deutscher“ bin, kurz vor der Grenze des allgemeinen Deutschenhasses anhält. Ein Hass, der mich zugleich aufbringt und deprimiert, nicht nur, weil ich gegen jeden ethnischen Hass bin, sondern weil ich spüre, dass er mich auch persönlich festzunageln droht. Weil ich ihn schon zu antizipieren beginne, indem ich nun meinerseits dazu übergehe, vorsichtig und taktisch zu argumentieren. Oder lieber ganz zu schweigen.
Übrigens fallen nicht alle Italiener in diesen Chor ein, der im Moment von ganz links bis ganz rechts geht. Und es ist ausgerechnet Matteo Renzi, der hier eine Ausnahme bildet, die schon fast wohltuend ist. Indem er einerseits an seiner Kritik der bisherigen europäischen Austerity-Politik festhält und sich auch gegen die (halbe) deutsche Option für den Grexit wandte, sich aber andererseits um Differenzierung bemüht. Auch wenn dahinter eine gute Portion von europäischem Opportunismus stehen mag (die ihm nicht nur von Grillo den Vorwurf der „Speichelleckerei“ eintrug), würde ich ihm dies nicht zum Vorwurf machen. Opportunistisch sind auch viele der antideutschen Tiraden, die jetzt die Szene beherrschen.
Söders Lächeln
Die (für manche unsichtbare) Mauer
In Italien begegnete ich schon vor Jahrzehnten dem Klischee, dass wir Deutschen über Leichen gehen, wenn wir uns im Recht fühlen, und zum Beispiel als Autofahrer kleine Kinder überfahren, wenn wir Vorfahrt haben. Solche Klischees liegen, so denke ich, in jedem Volk über die Nachbarvölker bereit. Solange man mit ihnen spielen kann, können sie trotz solcher Grausamkeiten auch unterhaltsam sein. Und sogar lehrreich, weil in ihnen oft Teilwahrheiten stecken, die auch dazu dienen können, den Wechsel der Perspektive zu üben und den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen. Aber sie können auch zu Bausteinen von Mauern werden, die zwischen den Völkern hochgezogen werden. Quer durch Europa entsteht gegenwärtig eine solche Mauer, an der sowohl vom Norden als auch vom Süden her gearbeitet wird und die immer unübersteigbarer wird. Weder die deutsche Politik noch ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit scheinen zu bemerken, dass sie vom Süden her auch gegen Deutschland gebaut wird. Mancher mag meinen, darin äußere sich die Souveränität des Überlegenen („was kümmert es die Eiche usw.“). Ich fürchte, dass es eher Phantasielosigkeit ist, eine Erscheinungsform der Dummheit.
Das Zusammenleben der Länder Europa setzt die Fähigkeit zum Perspektivwechsel voraus. Daran hapert es in Italien, aber noch mehr in Deutschland. Wenn die deutsche Regierung meint, sich diese Fähigkeit ersparen zu können, weil sie die Macht hat und sich zudem im Recht glaubt, baut sie an dieser Mauer kräftig mit. Und damit an der Spaltung Europas.