Nur südliches Gejammer?
Renzi, der gerade Japan besuchte, zensierte den öffentlichen Brief, den ihm Roberto Saviani am 1. August über die Lage des italienischen Südens schrieb, als „Gejammer“. Saviano ist aus dem Süden und äußert sich gern zur italienischen Tagespolitik. Sein schriftstellerischer Kampf gegen die Mafia, dessentwegen er unter ständigem Polizeischutz lebt, gibt ihm moralische Autorität. Offenbar traf er bei Renzi einen Nerv, als er ihn öffentlich aufforderte, sich nun endlich auch des Mezzogiorno-Problems anzunehmen.
Der Svimez-Bericht
Anlass für Savianos Brief war ein Bericht des Wirtschaftsinstituts Svimez (der Name verbindet „Sviluppo“, Entwicklung, und „Mezzogiorno“, Süden) über die wirtschaftliche und soziale Lage Süditaliens. Der Bericht ist ein Alarmruf. Italien, so lässt sich das Ergebnis zusammenfassen, ist ein havariertes Schiff, das auch noch in der Mitte durchgebrochen ist. Zwar gibt es für Gesamtitalien kleine Anzeichen wirtschaftlicher Erholung, welche die Renzi-Regierung zur großen „Wende“ aufpumpen möchte. Um sie auf ihre eigene Politik (z.B. den „Jobs Act“) zurückzuführen, obwohl ihr dabei auch der niedrige Ölpreis und Draghis Europäische Zentralbank zu Hilfe kamen. Aber leider gibt es schon auf dieser Ebene ein Datum, dass die Euphorie schnell wieder verfliegen lässt: Die Jugendarbeitslosigkeit steigt weiter. Für über 44 % der jungen Leute, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und zwischen 15 und 24 Jahren alt sind, hat Italien keine Verwendung.
Abkoppelung des Südens
Vor allem zeigen die Svimez-Daten, dass solche Gesamtrechnungen eine zweite Wirklichkeit verdecken: den sich vertiefenden Abstand zwischen Nord- und Süditalien. Man nehme nur die Jugendarbeitslosigkeit: Während in Nord- und Mittelitalien 35 % keine Arbeit finden, sind es in Süditalien 56 %. Zwischen 2008 und 2014 sank im Norden die Beschäftigung um 1,4 %, im Süden um 9 %. Oder von den 811.000 Menschen, die in dieser Zeit ihren Job verloren, hatten ihn 576.000 im Süden. Bei Frauen unter 34 haben in Mittel- und Norditalien 42,3 %, in Süditalien 20,8 % eine Beschäftigung.
Ähnliches zeigen die Indikatoren Wachstum, Einkommen und inneritalienische Migration. Italien ist in der Eurozone das Land mit den niedrigsten Wachstumsraten, aber noch schlimmer ist es, wenn man nur den Süden betrachtet: Von 2000 bis 2013 wuchs er halb so schnell wie Griechenland. Während das gesamtitalienische Bruttosozialprodukt wieder leicht ansteigt, befindet es sich in Süditalien weiter auf Talfahrt, nun schon im siebten Jahr. Im Süden liegt das Durchschnittseinkommen 46,3 % unter dem des Nordens. Im Norden müssen 28,5 % der Menschen mit einem Monatseinkommen unter 1000 € auskommen, im Süden 62 %. In den letzten 13 Jahren hatte der Süden gegenüber dem Norden einen negativen Wanderungssaldo von 744.000 Menschen. 526.000 von ihnen waren unter 34, 205.000 hatten ein Hochschuldiplom. Wer kann, verschwindet, vor allem der besser Ausgebildete.Und schließlich ein Datum, welches das Elend wie in einem Brennglas bündelt. In fast allen europäischen Ländern liegen die Geburtenraten unter den 2,1 Kindern, die statistisch je Frau zur demografischen Reproduktion nötig sind. Man hält das für ein „Wohlstandsphänomen“. In Italien gilt das Gegenteil: Im ärmeren Süden liegt die Geburtenrate mit 1,31 sogar unter der des Nordens (1,43). Der kinderreiche Süden: wenn es jemals stimmte, sind es tempi passati. Svimez prognostiziert für den Süden in den nächsten 50 Jahren einen Bevölkerungsschwund von 4,2 Millionen, der Anteil an der Gesamtbevölkerung werde von 34 auf 27 % sinken.
Savianos Brief
Wenn Renzi Savianos Brief als „Gejammer“ abtut, meint er wohl die Passagen, in denen Saviano die menschlichen Schicksale hinter den Zahlen zeigt: Frauen, die ein zweites Kind als „Wahnsinn“ betrachten, perspektivlose Jugendliche, die nur noch fortwollen. Vielleicht meint er auch Savianos Sottise, dass aus dem Süden nicht nur Emigranten verschwinden, sondern sogar die Mafia. Nicht dass der Süden „mafiafrei“ würde (schön wär‘s!), sondern dass die Mafia jetzt lieber ihr Geld im Norden investiert.
Was Saviano von Renzi fordert, ist keine Neuauflage der milliardenschweren Programme, die seit Jahrzehnten von der EU und dem italienischen Staat immer wieder für den Süden aufgelegt wurden und dort entweder gar nicht ankamen oder in dunklen Kanälen versickerten. Wobei der erste Skandal fast genauso schlimm ist wie der zweite: Ein großer Teil der für Süditalien aus den europäischen Strukturfonds bereitgestellten Millionen wurden viele Jahre lang nicht abgerufen, sei es aus bürokratischer Unfähigkeit, sei es, weil der italienische Staat keine Kofinanzierung zustande brachte. Was ankam, versandete oft in Mini-Projekten, mit denen Provinzfürsten ihre örtliche Klientel versorgten und die letztlich nur obsolet gewordene Strukturen konservierten.
Nicht nur die Mafia ist das Hindernis
Stattdessen fordert Saviano, den Süden endlich auf die „eigenen Beine“ zu helfen. Die „schlimmste Korruption“ sei nicht der „Unehrliche, der stehlen will. Sondern dass der Ehrliche zur Korruption greifen muss, wenn er ein Dokument haben, ein ihm zustehendes Recht nutzen, eine Aktivität beginnen, ein Unternehmen gründen will. Um zu bekommen, was ihm zusteht. Im Süden muss man sich schon immer sein Recht kaufen“.
Wer sich im Süden ein wenig auskennt, weiß, dass dies die reine Wahrheit ist. Und wie schwer es sein wird, dagegen anzukommen. Dafür sind nicht nur Gesetze zu ändern, sondern ist neben der Korruption auch der Klientelismus zu bekämpfen, die dort seit Jahrhunderten eingefleischte Überlebensstrategie. In der Diskussion, die der Svimez-Bericht auslöste, gab es auch die Meinung, man müsse eben im Süden die gesamte Führungsschicht auswechseln. Dies würde wohl nicht einmal einer Diktatur gelingen. Von Renzis Ankündigung, er werde ab sofort für den Süden „die Ärmel aufkrempeln“, sollte man sich jedenfalls keine Wunder erwarten. Von allen Brettern, die er bohren will, wäre es das härteste. Dafür wäre es hilfreich, auch Moralisten wie Saviano an seiner Seite zu haben. Und klüger, als sie wegen „Gejammers“ öffentlich zu verhöhnen.