Zwei persönliche Nachrufe auf Pietro Ingrao
Marcella: Pietro starb gestern in Rom. Ich war, wie immer in dieser Jahreszeit, in „seinem“ geliebten Haus in Lenola, als mich die Nachricht erreichte. Er selbst war in den letzten Jahren nicht mehr hier, zu groß wären die Strapazen einer solchen Reise für ihn gewesen. Aber er ist in diesem Haus präsent.
Keine Zeile heute von mir, der Nichte, über sein politisches und geistiges Wirken und seine Rolle in der italienischen Geschichte. Darüber sollen andere schreiben. Ich trauere um ihn, zärtlich und in Dankbarkeit. Er hat mich und mein Leben wie kaum ein anderer Mensch geprägt. Ob in Zuneigung, Zustimmung oder Widerspruch: Immer habe ich mich an ihm orientiert. Zuallererst als Mensch und moralisches Vorbild. Er hat mich nicht nur gelehrt, sondern mir vorgelebt, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist. Und dass man gegenüber den Mächtigen den Buckel nie krumm machen darf – auch wenn man dabei verliert. Auch den Wert des Zweifelns habe ich von ihm gelernt.
Pietro war ein leidenschaftlicher Mensch, mit einem – nicht gerade einfachen – Charakter voller Widersprüche. Er konnte unendlich zartfühlend wie stur und zornig sein, schnell von Rührung ergriffen und – was er selbst nicht ohne Koketterie zugab – ziemlich eitel. Er hatte die Gabe, nicht nur den Kopf, sondern auch die Herzen der Menschen zu erreichen. Die der Frauen sowieso. Er war ein Charmeur und wusste es. Wenn ich mal eine hübsche neue Bluse trug oder eine neue Frisur hatte, merkte er das – im Gegensatz zu meinem Mann – sofort und machte mir Komplimente. Aber in politischen Diskussionen konnte er hart sein. Und mir deutlich zu verstehen geben, dass er meinen Standpunkt für völligen Blödsinn hält. Ihm zu begegnen – politisch wie persönlich – war immer etwas Besonderes.
Pietro ist 100 Jahre alt geworden. Er wird heute und morgen in einem Saal im Abgeordnetenhaus aufgebahrt, damit sich die Menschen, die ihn geschätzt und geliebt haben, von ihm verabschieden können. Die offizielle Trauerfeier findet am Mittwochmorgen vor dem Abgeordnetenhaus statt. Danach begleiten wir ihn nach Lenola, zu der Familienkapelle auf dem kleinen Hügel, dem tyrrhenischen Meer zugewandt. An dem Ort, den er liebte und in seinen späten Gedichten so schön besungen hat.
Hartwig: Ich habe mit Dir gestritten. In der letzten Zeit, in der Du für mich wie für die meisten unzugänglich wurdest, in Gedanken.
Du bist auf Deine alten Tage zum Pazifisten geworden. Ich dachte an Hitler und die Toten von Sarajevo, und war nicht einverstanden. Du zeigtest stumm auf die Gegenwart.
Bis zuletzt hieltest Du den Kommunismus hoch. Ich dachte an die totalitäre Gesellschaft, die alle Vermittlungen und „Entfremdungen“ auszulöschen sucht. Und war nicht einverstanden. Aber für Dich ging es, denke ich, um anderes: um die regulative Idee einer gerechten Gesellschaft, welche die Menschen davon befreit, den Hut vor den „Dons“ zu ziehen und alle Verhältnisse nur noch ökonomisch zu kalkulieren. An diesem Kommunismus hieltest Du dickköpfig fest.
Du warst Atheist, aber besuchtest klösterliche Konvente. Manche Katholiken wollten Dich zum Heiligen machen. Ich war nicht einverstanden. Aber Du, der Du den Zweifel kultiviertest, suchtest neben Deinen Büchern nach dem Unsagbaren: in der lyrischen Metapher, im Film, in der Musik.
Ich schenkte Dir Garbareks „Officium“ und wollte es mit Dir hören. Aber Du zogst es vor, Dich mit Deinem Bach einzuschließen. Als ob er Dein Eigentum wäre.
Du warst wie der Alte, der in einer Hütte auf einer windigen Anhöhe lebt. Und die Türen hinter sich schließt, um sie in alle Himmelsrichtungen offen zu halten.
Ich kann nun nicht mehr mit Dir streiten. Ich bin nicht einverstanden.