Das Caporalato

Am 13. Juli starb die apulische Landarbeiterin Paola Clemente auf einem Weinfeld bei Andria. Wie jeden Tag hatte sie nachts um 2 ihre Wohnung in S. Giorgio Jonica verlassen, um den Bus zu nehmen, der sie in gut zwei Stunden zu ihrem Arbeitsplatz brachte. Ihre Aufgabe war es, die kleinen Beeren von den Trauben zu entfernen, damit diese nach der Reifung perfekt aussehen und bessere Preise erzielen. Leichte Arbeit, könnte man meinen, aber täglich 8 bis 10 Stunden lang wird es Sklavenarbeit. Manchmal war Paola nachmittags um 3, manchmal um 6 zu Hause. Ihr „Caporale“ zahlte ihr für den Arbeitstag 27 Euro, also 2 bis 3 Euro pro Stunde (je nachdem, ob man die Wegezeiten mitrechnet). Am 13. Juli, so ein Arbeitskollege, klagte sie über Rückenschmerzen und schluckte eine Pille. Plötzlich habe sie geschrien und Schaum vor dem Mund gehabt. „Es war nichts mehr zu machen“. Die 49-Jährige hinterließ einen Ehemann und drei Kinder.

In der apulischen Landwirtschaft war es in diesem Sommer nicht der einzige Todesfall. Am 21. Juli starb unter ähnlichen Umständen in den Tomatenfeldern von Nardò ein Sudanese, am 6. August ein Tunesier in Polignano a Mare. Mitte August ertrank ein Landarbeiter aus Mali, der im Baracken-Ghetto für Schwarze bei Rignano lebte, in einem Bewässerungstank. Seine Leiche ließen die „Caporali“ verschwinden, wohl um weitere Untersuchungen zu verhindern. Ein italienischer Landarbeiter, der bei der Arbeit zusammenbrach, liegt im Koma. Vermutete Ursachen: die Hitze, die im Sommer vor allem in den Gewächshäusern mörderisch ist; der überlange Arbeitstag (manchmal bis zu 15 Stunden); die Pflanzenschutzmittel, mit denen die Arbeiter ständig in Kontakt kommen.

Die „Caporali“

Wer sind die „Caporali“, die bei alledem eine Schlüsselrolle spielen? Beim Militär heißen so die Gefreiten, in der Fabrik die Vorarbeiter. In der italienischen Landwirtschaft hat das Wort eine andere Bedeutung. Früher, in den Zeiten der Großgrundbesitzer, waren sie ihre lokale „Klassenpolizei“, die für Ordnung sorgte und gegen rebellierende Landarbeiter auch schon mal die Waffe einsetzte. Heute versorgen die „Caporali“ die landwirtschaftlichen Betriebe an allen offiziellen Tarifordnungen und Rekrutierungskanälen vorbei mit Tagelöhnern, wofür ihnen der bäuerliche Padrone eine „Gebühr“ zahlt. Auf zusammen eine Milliarde Euro wird der Schaden geschätzt, der jährlich den Arbeitern durch nicht ausgezahlte Löhne und dem Staat durch hinterzogene Sozialversicherungsbeiträge entsteht. Die Versuchung, sich trotz drohender Strafen solcher „Vermittler“ zu bedienen, ist groß: Würde beispielsweise im Weinbau ein Betrieb legal Saisonarbeiter beschäftigen, müsste er ihnen pro Stunde 14 bis 16 Euro bezahlen. Wendet er sich an sog. „Kooperativen ohne Land“, die sich oft auf die Vermittlung von Arbeitskräften aus dem Osten spezialisiert haben, bekommt er sie für 10 Euro. Besorgt er sich die Arbeiter schwarz, sinkt der Preis auf 8 Euro. Davon kassiert der „Caporale“ (für Transport, Verpflegung, Unterbringung und „Vermittlung“) pro Stunde 4 bis 5 Euro. Für die Arbeitskraft aus Bulgarien, Bangladesh, Afrika (oder neuerdings wieder aus Italien, siehe Paola Clemente) bleiben 3, manchmal nur 2 Euro pro Stunde. Sie sind die heutigen Arbeitssklaven, die man „frei“ nennen kann, weil sie keinen Besitzer haben, für den sie einen Wert darstellen. Verschwindet einer, steht der nächste bereit.

Andere Hautfarbe, gleiche Funktion

"Wohnungen"

„Wohnungen“

In der Landwirtschaft veränderte sich in den letzten 50 Jahren vieles. Früher waren die Tagelöhner Einheimische, heute sind sie „globalisiert“, d. h. sie kommen aus Osteuropa, Afrika und Asien. Solange sie Einheimische waren, hatten sie abends einen Ort, in den sie zurückkehren konnten, in dem die Caporali aber auch ihre Familien unter Druck setzen konnten. Seit sie aus Osteuropa, Indien, Bangladesh oder Afrika kommen, leben sie in Baracken-Ghettos oder wie streunende Hunde in Verschlägen oder verlassenen Geräteschuppen irgendwo auf dem Land, ohne Wasser und sanitäre Einrichtungen. Die Unternehmendsten von ihnen versuchten, sich von den Caporali unabhängig zu machen, indem sie „Kooperativen ohne Land“ gründeten. Mit der Idee, die Vermittlung von Arbeitskräften in die eigene Hand zu nehmen. Manchmal hat es funktioniert. Meist führte es jedoch dazu, dass nun die Caporali die Nationalität und vielleicht auch die Hautfarbe wechselten. Aber sie blieben Caporali. Der Weg vom Opfer zum Täter ist kurz.

Man glaubte einmal, das Caporalato gebe es nur im Süden, bei der Tomatenernte in Kampanien und Kalabrien oder beim Weinanbau in Apulien. Aber Wein wird auch im Norden angebaut. Giancarlo Gariglio, der für Slow Food schreibt, berichtet, dass in die Produktion der piemontestischen Spitzenweine, z. B. des Barolo, Landarbeiter aus Mazedonien einbezogen sind, die unter der Fuchtel von Caporali und bei unerträglichen Arbeitsbedingungen drei Euro pro Stunde bekommen. Für den italophilen Deutschen, der abends seinen edlen Barolo genießt, vielleicht ein „Paradox“.

Die Regierungspläne

Zwischen den Klein- und Mittelbetrieben, die in der italienischen Landwirtschaft um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen, und dem Überangebot an ausländischen Arbeitskräften, die bereit sind, zu unmenschlichen Bedingungen weit unter Tarif zu arbeiten, gibt es eine Symbiose. Ohne diese Schwarzarbeit und das sie vermittelnde Caporalato, so sagen die Eingeweihten, wäre vor allem im Süden die Landwirtschaft längst zusammengebrochen. Wie soll man hier sozialstaatlichen Standards Geltung verschaffen, ohne den Betrieben und damit auch den Saisonarbeitern die Existenzgrundlage zu entziehen? Das Caporalato hat sich wie ein Krebsgeschwür entwickelt. Aber der Svimez-Bericht und die apulischen Todesfälle haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Wenn Renzi jetzt ankündigt, für den Süden „die Ärmel hochzukrempeln“, gehört dazu auch der Kampf gegen das Caporalato: strengere Strafen (Geldbußen, sogar Betriebsschließungen), häufigere Inspektionen, besserer Schutz für „Whistleblower“. Man könnte auch die Konservenindustrie für das „saubere“ Arbeiten ihrer Zulieferer mitverantwortlich machen. Außerdem will die Regierung ein „Netzwerk landwirtschaftlicher Qualität“ ins Leben rufen, das die Produkte positiv zertifiziert (woran wiederum der Zugang zu europäischen Subventionen gebunden werden kann). Dafür müssten es die europäischen Konsumenten lernen, bei der Flasche Barolo, die sie im Weinhandel, und den italienischen Tomaten, die sie im Supermarkt kaufen, auch auf das Vorhandensein eines „ethischen“ Prädikats zu schauen.

Roberto Saviano, der selbst aus der kampanischen Tomatengegend stammt, will mehr. Er sagt: Verbote allein reichen nicht. Die Betriebe, die Flexibilität und billige Saisonarbeiter brauchen, müssten „legal“ werden können. Die Arbeitsvermittlung müsste gesetzlich reguliert werden, für Saisonarbeiter müsste es einen neuen Typ von Verträgen geben. Eines spricht er allerdings nicht an: Müsste es dann nicht für diese Arbeiter fixierte Sondertarife geben, die zwar deutlich über ihren derzeitigen Hungerlöhnen liegen könnten (immerhin entfiele die „Gebühr“ für die Caporali), aber unter den „offiziellen“ Tarifen, die sowieso niemand mehr zahlt? Konflikte mit den Verteidigern des sozialrechtlichen Status quo wären unausweichlich.

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