Bedrohte Idylle

Zu meinem Beitrag über den Vormarsch der Rechtspopulisten in der EVP schrieb eine Leserin unseres Blogs (im Telegrammstil, ich zitiere den Kommentar – nach ein paar sprachlichen Glättungen – wörtlich):

„Das übliche „linke“ Blütenweiß – edel, mitleidig, tolerant – gegenüber einem Schwarz, ins Braune changierend. Nur weil manche finden, man möchte nicht jeden – unkontrolliert, grenzenlos – in Gärten und ins Haus lassen, denn man sucht sich seine Gäste, Nachbarn, Freunde gerne aus. Man lässt sie anrufen, klingeln, fragen, sich vorstellen, bitten – und macht Unbekannten Türen und Tore nicht einfach auf. Wenn es Volksvertreter gibt, die ihr Volk weder fragen noch schützen, soll sich keiner wundern, wenn sich das Volk nach Vertretern umsieht, die ihr Eigentum schützen“.

Zwar teile ich diesen Kommentar nicht, aber ich finde ihn erhellend. Zu dem anfänglichen Nadelstich, ich sei moralisch überheblich, nur die Bemerkung: Der Streit um die Frage, wie man sich gegenüber den Flüchtlingen verhalten soll, ist immer auch ein moralischer Streit. Ohne die Bewertung dessen, was „gut“ und was „schlecht“, oder wenigstens besser / schlechter ist, geht es nicht.

Die Metapher von Haus und Garten

Die Kommentatorin tut es ja selbst: Auch sie hat klare Vorstellungen über das, was gut und was schlecht ist. Es steckt in ihren Vergleichen: Gut und verteidigenswert sind mein Eigentum, mein Haus und Garten, gut ist es, mir meine Gäste, Nachbarn, Freunde selbst aussuchen zu können, gut sind die Türen, die ich gegenüber Unbekannten (und manchmal auch Bekannten) schließen kann. Hier wird eine Idylle gezeichnet: Haus, Garten, Eigentum, jederzeit möglicher Rückzug ins Private. Ich meine „Idylle“ nicht abwertend, denn es sind Ingredienzen des Wohlbefindens, über die vielleicht nicht jeder von uns verfügt, aber von denen wir glauben, sie uns zumindest wünschen zu können.

Aber wie zum Positiven das Negative gehört, so zur Idylle ihre Bedrohung. Und hier kommt die Metapher erst zu ihrer vollen Entfaltung. Im Kommentar erscheinen die Flüchtlinge als Chiffre, welche sie darauf reduziert, eine bedrohliche Randerscheinung dieser Idylle zu sein: Sie sind „Unbekannte“, die ungefragt reinwollen. Einen „Gast, Nachbarn, Freund“ kann ich wegzaubern, indem ich mich zurückziehe und hinter mir die Tür zuziehe, vielleicht bis zum nächsten Mal. Aber der Flüchtling ist da, bleibt stehen, als erratischer Block vor meiner Tür, in meinem Garten. Und will Anteilnahme, vielleicht sogar etwas von meinem Eigentum. Er stört, weil er allein durch sein Dasein die Spielregeln verletzt. Da enttäuschen mich „Volksvertreter“, welche Haus und Garten nicht „schützen“ und „das Volk“ nicht „fragen“.

Auch hier eine zweigeteilte Welt. Diese Zweiteilung hat den Vorteil der Einfachheit, denn man muss nicht hinschauen, warum die „Unbekannten“ kommen und was sie aus ihrem „Haus und Garten“ weggetrieben hat. Und man kann aussparen, was diese Zweiteilung nur komplizieren würde, z. B. die Frage, ob wir nicht mittlerweile in einer Welt leben, in der alles interdependent ist, oder ob wir – unser Land, Europa, der Westen – nicht vielleicht eine Mitverantwortung am Zustand der Länder tragen, aus denen die Menschen fliehen. Nein, es genügt, dass nun diese „Unbekannten“ in unser „Haus“ drängen oder ihr Zelt in unserem „Garten“ aufschlagen wollen, ohne dass sie vorher „anrufen, klingeln, fragen, sich vorstellen, bitten“. Das sagt genug über sie: Sie sind der Widerspruch zu unserer Idylle.

Die Folgerung: Kein Recht für Flüchtlinge

Denkt man es zu Ende, so verdient der Flüchtling keine Rechte, sondern bestenfalls eine Gnadenchance, die ich ihm gebe wie dem Nachbarn, den ich mal in meine Wohnung lasse, mal nicht, je nachdem wie mir gerade zumute ist. Der Sündenfall begänne schon in unserer Verfassung, die politisch Verfolgten ein Asyl-Recht gibt. Und würde sich im Flüchtlingsrecht der EU, in der Genfer Flüchtlingskonvention usw. fortsetzen: Hier wird dem Flüchtling unter bestimmten Bedingungen das einklagbare Recht zugesprochen, sich bei uns eine Zeitlang (manchmal sogar für immer) niederzulassen, und zwar unter menschenwürdigen Bedingungen. Was unser Recht einschränkt, frei darüber zu entscheiden, wen wir mit welchen Rechten in unser „Haus“ (Land) lassen und was er bei uns tun und lassen kann. Soll unser Recht uneingeschränkt sein, wäre dem Flüchtling sein Recht wieder zu entziehen.

Pegidas Heimatschutz

Pegidas Heimatschutz

Das ist noch nicht alles. Denn diejenigen, die unser „Haus“, unseren „Garten“, unsere „Heimat“ schützen (beim letzteren zitiere ich nicht mehr die Kommentatorin, sondern ein Plakat von den Pegida-Demonstrationen), schauen sich schon längst nicht mehr nur nach besseren „Volksvertretern“ um. Sondern nehmen vielerorts die Sache selbst in die Hand. Indem sie, wie schon vor anderthalb Jahrzehnten, Flüchtlingsheime in Brand setzen und sich in Schlägertrupps organisieren, die Flüchtlinge krankenhausreif schlagen. Sie sind schon wieder unterwegs, jede Nacht und manchmal auch am Tag. Die Kommentatorin nennt sie bei dem Namen, den sie sich selbst geben: Sie sind „das Volk“. Wer es anders sieht, zählt nicht, ist ausgeschlossen. Wie die Flüchtlinge, die anonymen „Unbekannten“. Zur Idylle, die denjenigen Geborgenheit gibt, die sie umhüllt, gehört auch der Ausschluss, wie die Rückseite des Mondes zu seiner Vorderseite.