Der Islam, die Menschenrechte und wir

Marcella Heines Artikel „Italienische Muslime setzen Zeichen“ löste im Bozener „Salto“-Portal eine lebhafte Diskussion aus. Im Kern geht es um die Frage, ob der Islam reformfähig ist. Oder vor dem heutigen Hintergrund: Ob der Westen in dem ihm jetzt aufgezwungenen Kampf gegen den IS auf Bündnispartner im islamischen Lager rechnen kann.

Die Diskussion war vielstimmig, aber interessant, weil in ihr auch sehr skeptische Urteile über den Islam artikuliert wurden. Sie lassen sich in zwei Kernthesen zusammenfassen: Der Koran und die Menschenrechte widersprechen sich, und was dem Islam im Unterschied zum Christentum fehlt, ist die Aufklärung. Dazu ein paar Bemerkungen:

Etwas mehr Bescheidenheit, bitte

Dass auch das Alte Testament nicht die reinste Quelle der Menschenrechte ist, hat sich herumgesprochen. Wer meint, dass es durch die Botschaft von Jesus „aufgehoben“ wurde, macht es sich sowohl theologisch als auch historisch zu einfach. Das Alte Testament ist nun einmal ein integraler Bestandteil der Bibel, die als Ganze das heilige Buch der Christen ist. Viele blutige Landnahmen der christlich-abendländischen Geschichte geschahen im Namen des Alten Testaments. Stolpersteine für die Menschenrechte finden sich aber auch im Neuen, siehe die Rolle der Frau in den Paulus-Briefen.

Ist mit Franziskus alles vergangen, überwunden, vorbei? Der Vatikan ist immer noch einer der wenigen Staaten, die weder die Menschenrechtscharta der UNO noch die europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben haben. Die theologische Begründung lieferte Papst Benedikt XVI: Das Naturrecht ist der unmittelbare Wille Gottes, steht also über den Menschenrechten. Und befindet sich beispielsweise die Homo-Ehe nicht im Widerspruch zu diesem Naturrecht? Auch die Trennung von Kirche und Staat gibt es in den katholischen Ländern nur unvollständig. Probleme mit den Menschenrechten zu haben, ist kein Monopol des Islams. Ebenso wie das Verhältnis zur Gewalt: Dass es auch im Christentum ambivalent ist, dafür steht seine gesamte Geschichte.

Genauer fragen

Jeder, der meint, dem Islam fehle die Aufklärung, sollte die Rede von Navid Kermani lesen, die er am 18. Oktober in der Frankfurter Paulskirche hielt, als ihm der Friedenspreis verliehen wurde. Sie machte klar, dass die Frage umgedreht werden muss: Wie ist es möglich, dass eine kulturelle Kraft wie der Islam, der einmal selbst ein aktiver Bestandteil unserer Aufklärung war, zum heutigen Zerrbild verarmte? In den vergangenen Jahrhunderten führte der Islam der angeblich „westlichen“ Aufklärung Energien zu (Stichworte: Ästhetik, Sufismus), die den Rationalismus ergänzten und überstiegen. Das „Problem des Islams“ sei, so Kermani, „weniger die Tradition als vielmehr der schon fast vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie“.

Kermani geht nicht in die Falle, die Schuld daran einfach dem westlichen Kolonialismus zuzuschieben. Es seien die arabischen Despotien selbst gewesen, die ihre Altertümer zerstörten, und heute sei es der mit Öl-Milliarden gesponsorte Wahhabismus, der hinter dem sich ausbreitenden „religiösen Faschismus“ steht. Allerdings tragen dafür auch diejenigen Kräfte eine Mitverantwortung, die sich in den islamischen Ländern als Vertreter westlicher Ideen präsentierten. Denn sie trugen dazu bei, dass in diesen Ländern die „Moderne nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert“ wurde. Kermani erzählt, wie 1936 auf Anordnung des persischen Schahs Soldaten in den Straßen Teherans ausschwärmten, um den Frauen das Kopftuch mit Gewalt wegzureißen.

Auch nach dem Gemeinsamen fragen

Der Exodus aus Ägypten

Der Exodus aus Ägypten

Man sollte nicht nur fragen, was Islam und Christentum unterscheidet. Denn die gewaltsame Gründung eines Gottesstaats, den die wahhabistischen Sektierer anstreben, ist keine Erfindung des Islams. Die israelischen Siedler, die Palästina zu einem Flickenteppich machen, köpfen zwar keine Menschen, aber vertreiben Menschen, weil Gott ihnen dieses Land verheißen habe. Was die Conquistadores nach Südamerika, die englischen Puritaner nach Nordamerika und die Buren nach Südafrika mitbrachten, waren außer Geistlichen auch Tod und Gewalt. In seinem Buch „Exodus“ zeigt der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, welche historischen Metastasen der Gründungsmythos des zweiten Buch Mose in allen drei abrahamitischen Religionen hervortrieb: der Auszug aus Ägypten, der Bund mit Gott, die Inbesitznahme des verheißenen Landes (samt Lizenz zur Ausrottung und Vertreibung der dort Ansässigen). So wurde die Ambivalenz von Friede und Gewalt, sozialer Befreiung und sozialer Unterdrückung zur Gemeinsamkeit aller drei Religionen. Dieses Stück Aufklärung über unser Erbe hat nicht nur der Islam, sondern haben wir alle noch vor uns.

Modernität des Islamismus

In seinem Kommentar zu dem anfangs erwähnten Artikel von Marcella Heine weist Bernhard Dressler mit Recht darauf hin, dass der islamische Fundamentalismus keineswegs „mittelalterlich“, sondern in seiner Verbindung von „brutalster Herrschaft, rigidester Moral mit modernstem Ökonomismus“ (ich füge hinzu: und Technizismus, HH) äußerst „modern“ ist. Dies rückt nicht den Islam, aber den islamistischen Fundamentalismus in die Nachbarschaft der totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts: Was Hannah Arendt in ihren „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ über Faschismus und Kommunismus schrieb, gälte dann auch für den islamistischen Fundamentalismus: dass er das Ergebnis der sehr heutigen Verlassenheitserfahrung atomisierter Individuen ist. Dies würde erklären, warum hinter der Konversion zum IS-Kämpfer nicht nur die soziale Leere der Banlieues, sondern auch die geistige Leere gutbürgerlicher Wohnzimmer stehen kann.

PS:
Die Kermani-Rede findet sich unter folgender Adresse:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kermanis-friedenspreis-rede-jacques-mourad-und-die-liebe-in-syrien-13863150.html