In Libyen auf Zehenspitzen
Dass „dahinter nur der Kampf ums Erdöl steckt“, ist eine These, mit der die Linke schon immer gern die Dynamik kriegerischer Konflikte entschlüsselte. Ihr Charme liegt in dem aufklärerischen Gestus, unter der Rhetorik von freedom and democracy den harten Interessenkern freizulegen. Bushs Irak-Krieg bestätigte sie exemplarisch. Aber nicht immer treibt das Interesse an fossilen Energieträgern in den Krieg. Zumindest nicht Italien, zumindest nicht jetzt.
Der Mut zum Nicht-Krieg
Die „Unità“, das frühere Zentralorgan der KPI (seligen Angedenkens), ist heute zu einer Art offiziellem Verlautbarungsorgan von Renzi geworden. Als sich alle Welt in Bekundungen der Solidarität mit dem vom Terror getroffenen Frankreich überbot und Hollande von „Krieg“ sprach, erschienen auf der Titelseite der Unità zwei Artikel, die sich dezidiert gegen den Mainstream richteten: der von Außenminister Gentiloni gezeichnete Artikel „Der Mut, jetzt nicht in den Krieg zu ziehen“, und der Artikel „Wir setzen uns nicht den Helm auf“.
Woher dieser „Mut“? Ist es die Einsicht, dass ein Krieg, wie ihn jetzt Frankreich gegen den IS führen will, nur zu einem Krieg gegen die Sunniten werden kann, die damit erst recht in die Arme des IS getrieben würden?
Schön wär’s, auch wenn dem außenpolitisch unerfahrenen Renzi so viel Weisheit und eigenes Standvermögen nicht unbedingt zuzutrauen ist. Es ist wohl eher der Blick auf Libyen, die frühere Kolonie und heute der nächste Nachbar im Süden, der die italienische Sicht des Nahen Ostens bestimmt. Die Erinnerung an das letzte Abenteuer ist noch frisch: Der von Frankreich und den USA 2011 im Schatten des „arabischen Frühlings“ geführte Krieg gegen Gaddhafi. Er führte zum Ende des Diktators, aber wegen seiner längerfristigen Konzeptlosigkeit auch in die politische Katastrophe: Zusammenbruch aller Staatlichkeit, zwei sich bekriegende Regierungen, Stammesmilizen, welche von Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, den Emiraten und der Türkei mit Geld und Waffen versorgt werden. Italien wurden die Scherben überlassen, in Gestalt der Schlepperbanden, die mit kriminellen Methoden die Flüchtlinge ausplündern, bevor sie die italienische Küste erreichen, sofern sie nicht vorher ertrinken. Im vergangenen Februar mietete die italienische Botschaft einen privaten Katamaran, um ihr hundertköpfiges Personal aus Tripolis zu retten. Es war die letzte Botschaft des Westens in Tripolis.
Der Vormarsch des IS
Die Nachrichten verdichten sich, dass der IS in Libyen immer mehr Fuß fasst, wo er jetzt über 3 bis 4000 Kämpfer verfügt. Angesichts des Widerstands, auf den er seit einigen Monaten in Syrien und im Irak stößt, wolle er nun auch in Libyen eine weitere Front errichten, sagen die Analysten. Seine Absicht, auch hier das Kalifat zu errichten, untermauerte er im Frühjahr durch das öffentliche Köpfen von 21 aus Ägypten stammenden koptischen Christen. Sirte, aus dessen lokalem Radiosender nur noch Koran-Verse zu hören sind, machte er zu seiner Operationsbasis. Inzwischen nahm er Derna ein, drang in Bengasi vor und kontrolliert mit den Küstenorten Harawah und Nawfaliyah einen wichtigen Abschnitt der Küstenstraße. Nun soll er von Sirte aus ins südliche Landesinnere vorrücken.
Was bedeutet, dass er sich nun auch in Libyen den Erdöl- und Erdgaslagern, Raffinerien und Pipelines zu nähern beginnt. Womit es ernst wird. Denn was Europa angesichts des Flüchtlingsproblems bisher nur erwogen, aber nicht in die Tat umgesetzt hat, das setzt nun der Vormarsch des IS auf die Tagesordnung: eine erneute militärische Intervention.
Schaukelpolitik eines Konzerns
Überraschenderweise ist es Italien, das auf die Bremse tritt. Um den Grund zu verstehen, muss man über ENI sprechen, den weltweit agierenden Erdöl- und Energiekonzern, dessen Großaktionär der italienische Staat ist. In Libyen produziert er ein Drittel des dortigen Gas- und Erdölaufkommens, und zwar bisher noch weitgehend unbehelligt. Während andere Multis wie der französische Total, der spanische Repsol und der amerikanische Marathon Oil wegen der Unruhen aus Libyen abziehen.
Der Frage, woran dieses vergleichsweise gute Abschneiden der ENI liegt, widmete das New Yorker Wall Street Journal im vergangenen Frühjahr einen langen Artikel. Einerseits liege es an den Offshore-Aktivitäten, an welche landgebundene Milizen schwer herankommen. Andererseits liege es an der (offiziell geleugneten) Politik, sich die Protektion verschiedener lokaler Milizen und Stämme zu erkaufen, um seine Anlagen zu schützen. So gebe es z. B. im Westen Libyens eine Pipeline, durch die 10 % der gesamten Gasversorgung Italiens fließt. Sie führe dicht an einem jihadistischen Ausbildungslager vorbei, werde aber von einer Miliz bewacht, die zur islamistischen Koalition gehört, deren Hauptquartier sich gegenwärtig in Tripolis befindet. In anderen Teilen des Landes stütze sich der Konzern auf Stämme und Milizen, die zur Tobruk-Regierung gehören. Es ist die klassische Schaukelpolitik, ohne sich offiziell für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Die Fähigkeit zu dieser Politik, die ihm das heutige Überleben ermöglicht, habe der Konzern durch die lokalen Kontakte erworben, die er während seiner 50-jährigen Präsenz im Lande knüpfen konnte. Dass er dabei auch zum Mittel der Bestechung greift, ist so selbstverständlich, dass der Wall Street Journal nicht einmal darüber redet. Nur in einem Punkt kam Eni ins Gerede: Nach dem Sturz von Gaddhafi kam der Konzern im Verdacht, auch ihn mit Schmiergeldzahlungen bei Laune gehalten zu haben. Dass der Konzern die Situation für prekär hält, zeigt das Schiff, das in einem libyschen Hafen ständig bereit liegt, um das ENI-Personal jederzeit in Sicherheit bringen zu können.Politische Flankensicherung
Was folgt daraus für eine italienische Außenpolitik, die ihren Konzern schützen will? Sicherlich keine Politik der Brachialgewalt, welche die in viele Stammesgesellschaften gespaltene Bevölkerung Libyens nur gegen sich aufbringen würde. Sondern eher eine Politik „auf Zehenspitzen“, die sich nach allen Seiten hin abzusichern sucht. Natürlich sieht auch Italien im IS den Feind, der um jeden Preis einzudämmen ist. Aber dafür muss in Libyen erstmal eine einheitliche Regierung geschaffen werden, deren Einverständnis man suchen kann. Ihre Bildung scheint jetzt in Reichweite. Erst danach kann der Feldzug gegen den IS beginnen. Der scheele Seitenblick, den die italienische Regierung dabei auf Frankreich wirft, ist unverkennbar. Deshalb verkündet sie auch vorsorglich: Wenn es in Libyen wieder eine einheitliche Regierung gibt, könne dort auch eine Peacekeeping-Mission beginnen. Aber wohlgemerkt: unter italienischer Führung. Damit es nicht wieder zu einer Aktion von Elefanten im Porzellanladen wird.