Das Sonst im Nullkomma-Land

De Rita, Censis-Chef

De Rita, Censis-Chef

Giuseppe De Rita, der Direktor des CENSIS, des renommierten sozio-ökonomischen Forschungsinstituts, hat Humor. Als er Anfang Dezember den neuen Jahresbericht zu sozialen Lage des Landes präsentierte, erzählte er folgende Geschichte: „Wenn man heute spazieren geht und die Leute fragt, wie es ihnen geht, antworten sie: ‚Schlecht. Kein Geld, keine Arbeit, Auto kaputt, Frau weg‘. Aber fragt man nach: ‚Und wie geht’s sonst?‘, kommt die Antwort: ‚Sonst geht’s mir gut‘.“ Was De Rita etwas überraschend so interpretiert: „Das ist Italien. Im Sonst steckt eine geheimnisvolle Energie, es ist das, was vorwärts drängt, die Lust, etwas zu tun. Dieses Sonst ist das implizit Überlegene“.

Stagnation

Was er damit erfassen wollte, ist eine Ambivalenz in der gegenwärtigen sozialen Situation Italiens. Faktisch befindet sich das Land noch immer in der Stagnation. Zwar stehen nach Jahren der Rezession viele Signale endlich auf Grün: Es gibt wieder Wachstum, es gibt zusätzliche Beschäftigung, es werden mehr langlebige Konsumgüter gekauft, auf dem Wohnungsmarkt tut sich etwas, es wird wieder gebaut. Aber die wichtigsten Indikatoren zeigen ihr Plus nur im „Nullkomma“-Bereich, beginnend mit dem Bruttosozialprodukt, bei dem sich Wirtschaftsinstitute und Regierung streiten, ob es nun um 0,7 oder 0,8 % wachsen wird. Beim Konsum überwiegen weiterhin Vorsicht und Risikoscheu, und wer nicht zu den gut drei Millionen gehört, die sowieso auf ihr Erspartes zurückgreifen müssen, um über die Runden zu kommen, legt sein Geld weiterhin auf die hohe Kante, als Rettungsring für die Zukunft, weil man zum Staat kein Vertrauen hat. Womit auch die Unternehmer gemeint sind, die sich weiterhin mit Investitionen zurückhalten. „Mit nur vorsichtigen Anschaffungen, kleinen Investitionen und noch mehr Sparen kann das Land nicht wieder in Gang kommen“. Zwar habe die Beschäftigung im Alterssegment 55 bis 64 Jahre seit 2008 um eine Million zugenommen, aber der Trend zur Unterbeschäftigung der Jüngeren halte an: Hier gebe es 2,7 Millionen in erzwungener Teilzeitarbeit, eine dreiviertel Million Unterbeschäftigte und – am schlimmsten – 2,2 Millionen, die nichts tun (die „NEETs“ = not in Education, Employment, Training). Das alles werde begleitet von der sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich und dem Abbröckeln des Wohlfahrtsstaats, zum Beispiel im Gesundheitswesen.

Emotional, so die Diagnose, befinde sich das Land in „kollektiver existenzieller Lethargie“. Zwar bemühe sich „die Politik“ – gemeint ist Renzi –, Optimismus zu verbreiten, um dem „Gesellschaftskörper wieder eine mobilisierende Spannung zur sozialen Veränderung einzupflanzen“. Aber dieser „politische Voluntarismus“ falle bislang „ins Leere, denn es kommt nicht zu jener kollektiven chemischen Reaktion, jener Osmose von Politik und vitalen Sozialwelten, welche die besten Phasen unserer Geschichte charakterisierte“. Von einem sich selbst tragenden und ganz Italien erfassenden Aufschwung ist das Land trotz aller politischen Reformrhetorik weit entfernt.

Brückenköpfe in die Zukunft

Trotzdem, und damit unterscheidet sich der diesjährige CENSIS-Bericht nun doch von den letztjährigen Berichten, sei dies nicht die ganze Wahrheit. Womit wir zum anfangs genannten „Sonst“ kämen. Auf der Mikroebene gebe es Ansätze zur Innovation, die zwar meist noch unverbunden nebeneinander existieren, von kleinen sozialen Gruppen getragen werden und von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleiben. Die Beispiele, die der Bericht anführt, sind disparat. So gebe es unter den Jüngeren eben nicht nur „Neets“, sondern bei einem Teil von ihnen auch eine überraschende Bereitschaft zur Initiative. Was sich etwa an der Selbstverständlichkeit zeige, mit der sie sich auf der Suche nach Arbeit oder weiterer Ausbildung ins Ausland gehen. Oder auch an den vielen Startup-Gründungen. So zählt die italienische Statistik in der Altersklasse 20 – 34 eine knappe Million Selbstständige, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Deren Innovationsfähigkeit sich z. B. darin zeige, dass sie „hybride“ Unternehmen erfinden, die Tourismus mit Gastronomie, Handwerk mit Design, Mode mit digitalen Plattformen verbinden. Hier sei das „Sonst“ zu finden, das leicht übersehen werde, weil es sich dem politischen Zugriff und der oberflächlichen Einflussnahme der Medien entzieht, aber die eigentliche Brücke in die Zukunft bilde.

Die „stille Integration“

Im Kontext des „Sonst“ sieht der CENSIS-Bericht auch „die stille Integration von Ausländern in unseren Alltag“: Während sich die Anzahl der italienischen Unternehmer zwischen 2008 und 2014 um 10 % verringerte, erhöhte sich die Anzahl derer mit „Migrationshintergrund“ um 30 %, vor allem im Handel. Die Berichterstatter sehen darin das Indiz, dass „sich die Ausländer in Italien auf einem Pfad (‚Trajektorie‘) befinden, die Richtung Mittelschichten führt. Im Unterschied zu der ethnischen Konzentration und dem sozialen Elend, welche die Peripherie von London oder Paris charakterisieren“.

Es ist schon atemberaubend, mit welcher Nonchalance die CENSIS-Forscher hier Teile der italienischen Realität ausblenden, die nicht in dieses optimistische Bild passen, zum Beispiel die teilweise mörderischen Bedingungen, unter denen Arbeiter aus Osteuropa, Afrika und dem fernen Osten in der italienischen Landwirtschaft ausgebeutet werden. Aber auch wenn die These von „Trajektorie Richtung Mittelschicht“ nur auf einen Teil der ausländischen Arbeitskräfte zuträfe, ist sie interessant, nämlich als Material zur Frage, wie die ökonomische Integration von Ausländern in unsere Gesellschaften funktionieren sollte – und wie nicht. Wir sollten das italienische Beispiel nicht imitieren, wo es anarchisch und menschenverachtend ist: mehr oder weniger geduldete Illegalität, Fehlen tariflicher Regelungen, schrankenloses Unterbieten sozialstaatlicher Standards. Aber wir können aus ihm lernen, dass eine gewisse Flexibilisierung der Regeln nötig ist, um den Flüchtlingen den Einstieg in den ökonomischen Kreislauf zu erleichtern und die Übergänge flüssiger zu machen. Diese Flexibilität müsste allerdings politisch gestaltet werden. Auch um die sozialen Spannungen zu minimieren, zu denen derartige Flexibilisierungen – siehe Mindestlohn – führen können.

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