Neue alte Fluchtwege

Derzeit befindet sich Europa in einer Art Länderwettbewerb der Abschottung gegen Flüchtlinge. Ungarn war nur der Anfang. Nachdem auch Schweden angekündigt hat, keine Flüchtlinge mehr hineinzulassen, verstärkt sich der Dominoeffekt. Dänemark, Österreich und die Staaten der Balkanroute – Mazedonien, Slowenien, Serbien, Kroatien – machen temporär immer wieder ihre Grenzen dicht. Stets mit der Begründung, es handele sich um eine Folgereaktion zum nationalen Schutz. Schengen ist inzwischen durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

Abschottungswettbewerb

Auch der Druck auf Merkel, noch vor den drei Landtagswahlen in März dem Beispiel Schwedens und Österreichs zu folgen, steigt. Die Finanzhilfen an den autoritären Herrscher Erdogan, damit er Europa die Flüchtlinge vom Halse schafft, und die zunehmenden Restriktionen des Asylrechts auch in Deutschland reichen den Rechtspopulisten der CSU nicht. Gejagt von einer offen rassistischen AfD, deren Vorsitzende den Gebrauch von Schusswaffen gegen wehrlose Zivilisten („als letztes Mittel“) befürwortet, ist die CSU-Kopie vom Original nur noch schwer zu unterscheiden.

Schritt für Schritt gibt Merkel dem Druck nach. Noch lässt sie ihren Regierungssprecher erklären, ein Abrücken von Schengen sei für Europa politisch wie wirtschaftlich eine Katastrophe. Sollten aber die bisherigen Maßnahmen zur – so Merkels Sprachregelung – „spürbaren Reduzierung der Flüchtlingszahlen“ nicht greifen, schließt auch die Kanzlerin ein temporäres Aussetzen von Schengen nicht aus.

Das ist genau das Szenario, das der italienischen Regierung zunehmend Sorgen bereitet. Neben Griechenland ist Italien nach wie vor die erste Station für Tausende, die Europa über das Meer zu erreichen versuchen. Zurzeit betrifft es hauptsächlich Sizilien, weniger die Insel Lampedusa. Diese ist allerdings weiterhin stark gefordert, da sie als Standort eines der beiden in Italien eingerichteten Hotspots dient, in denen die Registrierung und die „Sortierung“ zwischen Flüchtlingen mit und ohne Asylaussicht stattfindet.

Adriaroute nach Apulien

Im Januar dieses Jahres kamen über das westliche Mittelmeer sogar 60 % mehr Flüchtlinge als im Januar 2015. Sollte die Landroute über die Balkanländer für die Flüchtenden zur Sackgasse werden, wird dies die Menschen nicht davon abhalten, sich in Bewegung zu setzen. Sie werden weiter vor Krieg, Terror und Elend fliehen und dafür unvorstellbare Entbehrungen auf sich nehmen. Und dabei sogar ihr Leben und das ihrer Kinder riskieren, weil sie zur Flucht keine Alternative sehen. Sie – und die an ihrer Flucht verdienenden Schleuser – werden nur ihre Wege ändern, so wie es im vorigen Jahr mit der Balkanroute geschah. Über Handys und Smartphones werden sie sich über neue Schlupflöcher nach Europa verständigen und es dort versuchen.

Wenn nun die Westbalkanroute weitgehend versperrt wird, könnte ein Fluchtweg reaktiviert werden, über den Anfang der 90er Jahre schon Tausende kamen: über Albanien und Montenegro und dann mit Booten nach Apulien. Damals waren es in erster Linie Kurden aus der Türkei und Flüchtlinge aus dem Krieg in Ex-Jugoslawien. „Wir verfolgen bereits aufmerksam, was sich in Albanien und Montenegro auf der Seite der Schleuser tut, ob es dort vermehrte Aktivitäten gibt“, heißt es aus dem italienischen Innenministerium. „Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass wieder die Adriaroute nach Italien an Bedeutung gewinnt, wenn die Menschen auf der Westbalkanroute nicht weiterkommen“.

Noch gehört die italienische Regierung zu den wenigen in Europa, welche die Flüchtlingszahlen nicht mit Grenzschließungen eindämmen wollen. Wohl auch im Wissen, dass für die meisten Flüchtlinge Italien nur ein Transitland ist. Wenn aber neben den westlichen auch die östlichen Küsten angesteuert werden, käme Italien wieder unter Druck. Organisatorisch, wirtschaftlich und auch politisch. Schon jetzt verzeichnet die fremdenfeindliche Lega steigende Zustimmungswerte. Auch Grillo und ein Teil seiner Anhänger zögern nicht, die xenofobe Karte zu ziehen, um Stimmung gegen die Regierung und die etablierten Parteien zu machen.

Hehre Absichten und Wirklichkeit

Ministerpräsident Renzi, der sich ansonsten nicht unbedingt durch Geradlinigkeit auszeichnet, bleibt allerdings in diesem Punkt (bisher) gegenüber populistischen Versuchungen standfest: dass Italien die Pflicht habe, Menschen in Not aufzunehmen und Leben zu retten. Das ist ehrenwert und heutzutage sogar mutig. Aber die Wirklichkeit widerspricht oft den hehren Absichten. Italien ist weit davon entfernt, den Flüchtlingen würdige Aufnahme- und Lebensbedingungen zu bieten. Die Verfahren laufen schleppend. Wenn sie überhaupt laufen. Immer wieder entziehen sich Flüchtlinge den katastrophalen Zuständen in den Erstaufnahmezentren, indem sie irgendwo untertauchen. Viele leben als Illegale auf der Straße oder in baufälligen Ruinen ohne Strom und Wasser, auch mitten in Rom. Im lukrativen Geschäft der Unterbringung und Betreuung mischt die organisierte Kriminalität kräftig mit. In der Landwirtschaft werden illegal massenweise Flüchtlinge und Migranten als Arbeitssklaven ausgebeutet.

Sicher: Die andere Seite – Hilfe von Kirchen, Wohlfahrtverbänden, Ehrenamtlichen und nicht zuletzt von Einsatzkräften, die tagtäglich Hunderte von Menschen vor dem Ertrinken retten – gibt es auch. Aber sie wiegt in der Bilanz die Versäumnisse nicht auf. Nicht zufällig entschieden europäische Gerichte, dass Flüchtlingsfamilien mit Kindern eine Rückführung nach Italien im Rahmen des Dublinverfahrens nicht zugemutet werden kann.

Ich habe deswegen Zweifel, ob die Forderung der italienischen Regierung, die EU möge ihr die Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen (nicht nur vom letzten Jahr, sondern auch von denen davor) aus dem Haushaltsdefizit „herausrechnen“, vertretbar ist. Erst müsste sie dafür sorgen, dass sie bei der Unterbringung und Betreuung internationalen Standards gerecht wird. Unabhängig davon bleibt jedoch das Drängen Renzis, der in diesem Punkt mir Merkel an einem Strang zieht, nach einem gesamteuropäischen Vorgehen richtig. Dazu müssten neben verbindlichen Länderquoten auch legale humanitäre Korridore für Kriegsflüchtlinge gehören. Doch davon ist Europa weiter entfernt denn je.