Wer den Wind gesät hat

Die Flüchtlinge sind eine „Flut“, die „alle Dämme bricht“ und uns „überschwemmt“. Manche fügten hinzu, die Flut sei „biblisch“ – wie die Sintflut, die über Noahs Erde, oder die Heuschrecken, die über Ägypten hereinbrachen. Damals war es Gottes Strafe. Die Ursachen, an die man heute glaubt, sind weltlicher. Die schlichteste ist das angeblich unbedachte „Gutmenschentum“ von Angela Merkel, das die Schleusen öffnete. Inzwischen scheint es fast gelungen zu sein, sie wieder zu schließen. Ist damit das Problem erledigt?

Schleusen werden wichtig, wenn eine Flut kommt. Warum kam sie überhaupt? Das Fernsehen beantwortete es mit Bildern und Nachrichten aus Syrien, dem Irak und anderswo, aus den Flüchtlingslagern im Libanon, in der Türkei und in Jordanien, aus Lesbos und Lampedusa. Womit die Ursache erst einmal weggerückt wird, zu Völkern, die „aufeinander schlagen“ und wo es Rückständigkeit, Unterdrückung und islamischen Fundamentalismus gibt. Also weit weg. Aber Vorsicht: Zum Zeigefinger gehört eine Hand, von der drei Finger auf den Zeigenden selbst zurückweisen. Wenn wir nach den Ursachen in den Fluchtländern fragen, geraten wir auf ein Gelände, das wir selbst mit vermint haben.

(Im Folgenden beziehe ich mich v. a. auf das Buch des früheren ZEIT-Journalisten Michael Lüders, das 2015 unter dem Titel: „Wer den Wind sät – Was westliche Politik im Orient anrichtet“ erschien. Wer sich seinen Glauben an den unbefleckten Westen erhalten möchte, sollte das Buch meiden. Mein Vorbehalt: Die Analyse ist etwas USA-lastig, da sie Lüders erst nach dem 2. Weltkrieg beginnen lässt und die Folgen der europäischen Kolonialpolitik nach dem 1. Weltkrieg ausblendet).

Spur der Verwüstung

Putsch 1953: Mossadeghs Gefangennahme

Putsch 1953: Mossadeghs Gefangennahme

Wer sich an das Bild erinnert, wie Ayatollah Khomeini im Februar 1979 nach seinem Pariser Exil in Teheran aus dem Flugzeug stieg, mag darin den Moment sehen, in dem der islamische Fundamentalismus die Weltbühne betrat. Aber es war zugleich die Frucht eines Sündenfalls, der schon damals 26 Jahre zurücklag, bei dem der Westen mit dem Iran auch sich selbst verriet: Als der CIA 1953 den demokratisch gewählten Premierminister Mossadegh wegputschte, weil er das britische Monopol auf das iranische Erdöl anzutasten wagte. An seine Stelle trat das „prowestliche“ Schah-Regime, welches 26 Jahre lang jede Opposition unterdrückte. Und sie damit in die Arme des schiitischen Klerus trieb. Auch wenn die USA in den Mullahs das „absolut Böse“ sahen: Der CIA war ihr Steigbügelhalter.

Das Muster der letztlich missglückenden Intervention wiederholt sich. In Afghanistan lockten die USA die UDSSR in die Falle, päppelten dabei aber ihren späteren Erzfeind Al Qaida hoch. Im Irak hinterließen sie ein verwüstetes Land, einen wieder angefachten Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten und eine aufgelöste irakische Armee, deren Offiziere in den sunnitischen Widerstand und zum IS gingen. In Libyen „delegierten“ sie den Militäreinsatz zwar an England und Frankreich, die Gaddafi ausschalteten, aber auch ein Vakuum hinterließen, in dem sich seitdem die Stammesmilizen bekämpfen, der IS ausbreitet und Gaddafis ehemalige Söldnermilizen den Terror bis nach Mali tragen. In Ägypten sah der Westen billigend zu, wie die Gewaltherrschaft des Militärs die frei gewählte, aber unerwünschte Regierung der Muslimbrüder ablöste. In Syrien herrscht Chaos – der Westen weiß, dass er Assad stürzen will, aber hat keinen Plan für die Zeit danach (in der ein noch schlimmeres Massaker droht). Ja, und dann noch die Nibelungentreue zu Israel, das sich immer mehr in eine halbfaschistische Ethnokratie verwandelt. Und der muslimischen Welt ein Lehrstück darüber liefert, was westliche Demokratie samt Menschenrechte wert ist.

Die Ursachen

Lüders behauptet nicht, nur der Westen sei schuld. Und überschreitet das altlinke Schema, das in allem das Wirken des diabolischen CIA sah, indem er auch den Dilettantismus betont, mit dem die USA-Politik fast immer das Gegenteil des eigentlich Angestrebten erreicht. Auf seine einleitende Frage: „Gibt es eine einzige militärische Intervention des Westens, das nicht Chaos, Diktatur, neue Gewalt zur Folge gehabt hätte?“ fällt einem in der Tat kein positives Beispiel ein – abgesehen vom Krieg gegen Nazi-Deutschland (dessentwegen ich kein Pazifist bin) und von den Luftangriffen, welche die Nato 1995 gegen die serbische Artillerie um das belagerte Sarajevo flog (die ich für gerechtfertigt halte, Lüders aber nicht erwähnt).

Bei den Interventionen in dem „Krisenbogen“ muslimischer Länder, der von Algerien bis Pakistan reicht, beging der Westen, so Lüders, nach 2001 folgende Fehler:

– Glauben an das „Allheilmittel direkter militärischer Intervention“;
– Bisheriges Grundmuster der Interventionen: Dämonisierung eines Diktators; dessen Sturz; ein
Machtvakuum, das sich gerade nicht mit „Demokratie“ füllt;
– Ignoranz gegenüber der vorwiegend feudalen Verfasstheit islamischer Staaten (Stammesstrukturen, schwache Mittelschicht, Parteien als Klientelbündnisse);
– Falsche Bündnispartner: Statt der Wahhabisten werden die Muslimbrüder bekämpft;
– „Antiwestliche“ Demokratieansätze werden bekämpft (Mossadegh im Iran, Islamische Heilsfront in Algerien, Hamas im Gaza-Streifen, Muslimbrüder in Ägypten).

Diese Liste ist unvollständig, da sich Lüders‘ Anschauungsmaterial vor allem auf die letzten 15 Jahre bezieht. Aber sie genügt, um ein Stück der Mitverantwortung zu veranschaulichen, die der Westen für die gegenwärtige Situation im „Krisenbogen“ trägt.

Die Flüchtlinge sind die Quittung

Was folgt für Europa und für Deutschland? Ein wenig Bedauern über den Verrat „westlicher Werte“, ein wenig Reue gegenüber den Ländern, die ins Chaos gestürzt wurden? Diese Distanz ist heute nicht mehr möglich. Inzwischen klopfen Millionen von Flüchtlingen an unsere Tür, die meist aus Ländern kommen, in denen auch die westliche Politik gescheitert ist. Damit wird aus einer Kausalität, die als (eine) Ursache „den Westen“ und als Wirkung das Chaos woanders hatte, ein Kurzschluss: die Flüchtlingsunterkunft nebenan. Da nützt es wenig, dass der „Hauptschuldige“ seit dem 2. Weltkrieg jenseits des Ozeans sitzt und von den Auswirkungen wenig abbekommt. Immerhin haben auch wir die Kleinigkeit von zwei Weltkriegen beigesteuert. Und die Flüchtlingstrecks ziehen nun einmal nicht nach Übersee, sondern nach Europa. Schon allein das macht uns mitverantwortlich.

Aus alledem folgt,
– dass Abschottung die Probleme nicht löst, sondern nur in andere Länder verschiebt;
– dass es sich um eine gesamteuropäische Aufgabe handelt (auch der Briten, die fast immer aktiv dabei waren, und der Osteuropäer, die beim Eintritt in die Gemeinschaft auch deren Erbe antraten);
– dass Europa gegenüber dem Nahen und Fernen Osten nicht mehr nur die Rolle des Juniorpartners der USA spielen darf;
– dass es aus den vergangenen Fehlern des Westens lernen muss.

Wir bekommen die Quittung für 100 Jahre falscher Politik. Es kann noch schlimmer werden. Der Dammbruch, den jetzt Syrien erlebt, kann ganz Nordafrika erfassen.