Nur menschliches Versagen?
Der Bahnhof, von dem aus wir unser Dorf erreichen, liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen Rom und Neapel. Er gehört schon zum Süden. Obwohl er für uns auch schon oft der Ort der Ankunft war, ist er ein Ort der Tristesse. Wo man fast immer ein nicht endendes dünnes Klingeln hörst, eine nicht zu entziffernde Botschaft aus dem Nirgendwo. Fahrkarten gibt es in der Bar, aber der Mann, der sie betreibt (und „Taliban“ genannt wird), ist nicht immer da. Im Vorraum des Bahnhofs steht ein Fahrkartenautomat, so alt und verrottet, dass man fragen möchte, ob er noch funktioniert. Aber die Schalter, hinter denen früher Menschen saßen, sind leer. Bei den Automaten, die zum Abstempeln an den Ausgängen zu den Gleisen hängen, haben wir Glück, wenn sie nicht „fuori servizio“ sind. Züge rauschen vorbei, auf dem Weg in die nächste Großstadt. Bis endlich einer hält, mit quietschenden Bremsen und Waggons, die ein halbes Jahrhundert alt zu sein scheinen. Um eine Tür zu finden, die dich einlässt, musst du den Zug entlang laufen. An vielen Türen prangt das Schild: Störung.
Das Zugunglück
Das ist der Süden, wie du ihn kennst. Jetzt kam die Nachricht, dass am 12. Juli in Apulien auf einem eingleisigen Streckenabschnitt zwei Pendlerzüge frontal zusammenstießen. Beide rasten ungebremst ineinander, jeder mit 100 Stundenkilometern, hinter einer Kurve, welche den Lokomotivführern die Sicht nahm und zum Bremsen keine Chance ließ. Die ersten Wagen verkeilten sich, die folgenden wurden aus den Schienen katapultiert. Der 12. Juli war ein Dienstag. Es geschah am späten Vormittag, zu einer Zeit, in der die lokalen Pendlerzüge noch nicht überfüllt sind (nicht auszudenken, wenn es am Nachmittag geschehen wäre). 23 Tote, viele Verletzte, 8 noch in Lebensgefahr.In Deutschland gab es am 9. Februar dieses Jahres bei Bad Aibling ein ähnliches Unglück: Zwei Triebwagen stießen zusammen, ebenfalls auf eingleisiger Strecke. Dort waren es 12 Tote und 89 Verletzte.
Wie in Bad Aibling vermuteten auch hier die Kommentatoren „menschliches Versagen“. Der Stationsvorsteher des Bahnhofs von Andria, habe einen Black out gehabt. Um 11 Uhr 38 schickte er einen Zug auf die eingleisige Strecke, obwohl ihn zwei Minuten zuvor vom nächsten Bahnhof die Information erreicht hatte, dass sich von dort aus gerade ein Zug in der Gegenrichtung in Bewegung gesetzt hatte. Als er seine grüne Kelle hob, war alles entschieden. Drei Minuten genügten, dass der Zug, dem er freie Fahrt gegeben hatte, seine Höchstgeschwindigkeit erreichte. Dann kam die Kurve und der Zug aus der Gegenrichtung.
In welchem Sinne es sich bei der Unglücksursache um „menschliches Versagen“ handelte, werden die Gerichte entscheiden. Was im Kopf des Stationsvorstehers von Andria vorging, als er seine Kelle hob, ist unbekannt (die Medien berichteten über seine „tiefe Religiosität“ – seine Frau sei „gerade von einer Pilgerfahrt nach Medjugorje zurückgekehrt“). Aus drei Gründen reicht der „Black out“ zur Erklärung nicht aus.
Eingleisige Strecken
Am Ort des Unglücks ist die Strecke 17 Km lang eingleisig. Solche Streckenabschnitte gibt es in vielen europäischen Ländern. In Deutschland warnte schon das Eisenbahn-Bundesamt, dass sie nicht nur Hindernisse für den Verkehrsfluss, sondern auch unfallträchtig seien, siehe Bad Aibling. Das weiß man auch in Italien, weshalb man schon 2007 entschied, für den Engpass bei Bari einen zweiten Schienenstrang zu bauen. Auch die Mittel (von der EU) liegen bereit. Bis heute gab es keinen Bauauftrag.
Eine Langsamkeit, die eigentlich unbegreiflich ist. Der Bau hätte im wirtschaftlich schwachen Süden für Unternehmen Aufträge und für Menschen Arbeitsplätze bedeutet. Und er diente einem guten Zweck: den Schienenverkehr zu verflüssigen und für Menschen weniger riskant zu machen. Warum wurde 9 Jahre gewartet? Der Antikorruptionsbeauftragte des italienischen Parlaments, Raffaele Cantone, gab zwei Tage nach der Katastrophe die Begründung, die gleich den gesamten Rückstand des Südens erklärt: Es liege an der Korruption, oder genauer: an den Korrupten, die fast immer ins Spiel kommen, wo öffentliche Gelder fließen, und Milliarden in dunkle Kanälen versickern lassen. Süditalien ist voll von Projekten, die niemals begonnen, und von Bauruinen, die niemals beendet wurden.
Kein funktionierendes automatisches Sicherheitssystem
Der zweite Grund: Eigentlich ist es heutzutage Standard, dass es für Züge auf eingleisigen Strecken eine technische Rückkopplung mit anderen Zügen gibt, die sich auf der gleichen Strecke befinden, was in Fällen allzu großer Annäherung den automatischen Stopp erzwingt. Auf der Strecke zwischen Corato und Andria gibt es dieses System nicht. Genauer gesagt: In den Zügen, die sich am 12. Juli auf dieser Strecke auf Kollisionskurs befanden, war es zwar installiert, aber es funktionierte nicht, weil dazu auch modernere Gleisanlagen gehören. Die Gleise auf dieser Strecke sind dafür zu alt.
Obwohl man sich eigentlich vor Verallgemeinerungen hüten möchte, kommt hier ein „kultureller“ Faktor ins Spiel: eine in Italien häufig anzutreffende Technikversessenheit, die immer das Neueste und Beste haben will, aber nicht auf die Kontextbedingungen achtet, die ihr Funktionieren ermöglichen. So gibt es beispielsweise in vielen Krankenhäusern und Ämtern moderne Maschinen, die den Kunden helfen sollen, ihre Wartezeiten zu planen. Oft sind sie nur Attrappen. Entweder weil sie aus geheimnisvollen Gründen außer Betrieb sind oder weil die zugehörigen Schalter unbesetzt sind.
Kein politischer Wille
Roberto Saviano, der intellektuelle Anwalt des Südens, hat noch eine dritte Erklärung: Der Politik – von Berlusconi bis Renzi – fehle der Wille, im Süden wirklich etwas zu verändern, ebenso wie ein längerfristiges Konzept. Das dortige Elend (Apulien gilt als eine der ärmsten Regionen Europas) habe eine so hohe Abwanderung ausgelöst, dass es wohl auch politisch uninteressant geworden sei (zu wenig Wähler). Andere Beobachter ergänzen, dass in den letzten Jahren viel Geld in die Modernisierung der Eisenbahn gesteckt wurde, aber vor allem in die Hochgeschwindigkeitszüge, die vor allem im Norden unterwegs sind. Bei den Menschen von Apulien ist der gute Wille da. Sie liefen zu Tausenden in die Krankenhäuser, um ihr Blut zu spenden.
Aber für die süditalienischen Stationsvorsteher ist zu befürchten, dass sie auch weiterhin zum Fernsprecher greifen, um sich mit den Kollegen vom nächsten Bahnhof abzustimmen, wessen Zug in welcher Richtung auf die eingleisigen Strecken gelassen wird. Es ist das gleiche atavistische System wie vor 60 Jahren. Ein Wunder, dass es meist noch gut geht. Aber eben nicht immer.