Die Flüchtlinge und die drei Linken
Die Flüchtlingsströme, die in den europäischen Ländern ankommen, verändern so manches. Nicht nur das Bild der Städte, sondern auch die Verhältnisse auf dem Land. Nicht nur die Ökonomie, sondern auch das Bewusstsein. Besonders auch das Bewusstsein vieler heutiger (oder ehemaliger) Linker.
Arbeitsmigranten als Ausbeutungsobjekte
Als ich in diesem Frühjahr mit meinem italienischen Freund A. am Schachtisch saß, brach es plötzlich aus ihm heraus: „Damit, was jetzt die Inder tun, machen sie sich keine Freunde. Die streiken ja! Gerade jetzt, wo bei uns die Arbeit richtig anfängt. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns denen noch irgendwann eine Arbeit gibt.“ Mit „uns“ meinte er die italienischen Genossenschaftsbauern, zu denen er gehört. Und mit „Indern“ die neueste Generation ausländischer Saisonarbeiter, die – zusammen mit Albanern, Bangladeshi, Nord- und Mittelafrikanern – den Kooperativen im Konkurrenzkampf mit den Großkonzernen das Überleben ermöglichen. Indem sie tun, wofür die Genossenschaften längst keine italienischen Arbeitskräfte mehr finden: Arbeit in den Gewächshäusern, für zweieinhalb bis dreieinhalb Euro die Stunde, in oft glühender Hitze, ohne Pause, bis zu 14 Stunden am Tag. Und natürlich ohne jeden Tarifvertrag. Über die Situation dieser modernen Sklavenarbeiter haben wir schon berichtet – neu ist, dass sie sich am 18. April dieses Jahres, wenn auch nur als national homogene Gruppe der „Inder“, zum Protest aufrafften, und sich eine Gewerkschaft fand (die Landarbeitergewerkschaft FLAI der CGIL), die ihn organisierte. Die Forderungen waren moderat: Zahlung rückständiger Löhne, Zahlung von Sozialbeiträgen. Aber an der Streikversammlung, die in Latina auf der Piazza della Libertà stattfand, nahmen 2000 Menschen teil, für die lokalen Verhältnisse schockierend viel. Es soll sogar zur Besetzung einiger Gewächshäuser gekommen sein.
Ein ehemaliger Linker
Ich fürchte, dass dieser versuchte Beginn einer Streikbewegung – der viel Mut erfordert – längst wieder zusammengebrochen ist. Seit dem 18. April hat man nichts mehr von ihr gehört (es genügt ja meist die Ächtung der „Rädelsführer“). Was den „sozialen Frieden“ auf Jahre hinaus wiederhergestellt haben dürfte, samt weiterhin ungehinderter Ausbeutungsfreiheit. Hier jedoch geht es mir um meinen Schachfreund A. Als ich ihn vor einigen Jahrzehnten kennenlernte, schien er ein Nachfahre der in Italien legendären linken Landarbeiterbewegung zu sein, die bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein heroische Schlachten mit den Großgrundbesitzern und der mit ihnen verbündeten Polizei ausfocht. Nun sitzt er, der frühere „Linksradikale“ (er war lange ein Aktivist von Vendolas SEL), vor mir und bricht den Stab über die „Inder“, die erstmals etwas Ähnliches wie einen Tarifvertrag haben wollen, mit Nachzahlung vereinbarter Löhne und Sozialbeiträgen, und empört sich, weil sie ausgerechnet in dem Moment streiken, in dem sie gebraucht werden, und nicht im Winter, wo es sowieso keiner merkt. Und will sofort und ohne jedes Bedenken zum schärfsten Mittel der Disziplinierung greifen, über das jeder frühkapitalistische Arbeitgeber verfügt: den Entzug der Arbeit. Die Reservearmee ist groß.Die Angst um den Wohlfahrtsstaat
Man kann dies als spezifisches Problem einer (man muss wohl eher sagen: ehemaligen) Linken sehen, die heute zum Nutznießer der Zuwanderung aus den ärmsten Teilen der Welt wird und sie im eigenen Interesse von allen sozialstaatlichen Sicherungen fernhalten will. Aber hier beginnt das Paradox: Für einen anderen Teil wird die Zuwanderung auch deshalb zur Quelle der Angst, weil sie befürchtet, dass sie diese Sicherungen für die hier Lebenden aufweichen könnte.
Das Faktum selbst ist klar: Es sind gerade auch Arbeiter, die den Resonanzboden für die populistische Xenophobie rechter Parteien bilden. Der Politologe Francesco Ronchi fasste es im Juli noch einmal (in einem offenen Brief an die „Repubblica“) zusammen: In Österreich gingen bei der letzten österreichischen Präsidentenwahlen 70 % der Arbeiterstimmen an den Kandidaten der populistischen Rechten, bei den Wahlen in Frankreich 40 % an Le Pen. Ich füge hinzu: In Deutschland liefen bei den letzten Landtagswahlen ehemalige Wähler der SPD und der Partei „die Linke“ scharenweise zur AfD über. In Italien ist der Fiat-Arbeiter, der im Betrieb noch die FIOM wählt, aber draußen die Lega (weil sie ihn „im Land schützt“), zum Topos geworden (auch wenn es ihn nicht wirklich geben sollte, ist er auf jeden Fall „gut erfunden“). Aber was bisher nur intellektuelles Kopfschütteln auslöste, macht Ronchi zu einer ernsthaften Forschungsfrage: Steht hinter dieser Irrationalität vielleicht auch eine reale Verunsicherung? Und damit eine Herausforderung für die Politik, die sie bisher noch nicht einmal im Ansatz beantwortet hat?
Ronchi berichtet, dass er während einer Studienreise durch die einst „rote“ Emilia-Romagna bei den Gemeindevertretern immer wieder auf die Klage stieß, dass die Leistungen des Sozialstaats eher den Zuwanderern als den „Alteingesessenen“ zu Gute kämen: bei der Zuweisung von Sozialwohnungen, Krippenplätzen usw. Obwohl wir uns daran gewöhnt haben, solche Argumente nicht besonders ernst zu nehmen, weil sie auch in Deutschland vor allem aus der „rechten Ecke“ kommen, können sie auch ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden verraten. Ronchi sieht dahinter ein allgemeineres Problem: Der europäische Sozialstaat setzte bisher die nationale Grenze voraus, innerhalb derer sich seine Garantien und Mindeststandards für den Staatsbürger entfalten können. Wenn diese Grenze durchlässig werde, führe das zu einer Verunsicherung, die wieder den (ich würde hinzusetzen: regressiven) Wunsch nach Rückkehr in die „Heimat“ erzeuge usw.
Ein neuer Brückenschlag ist notwendig
Ich denke, das ist der Beginn einer Debatte, die weitergeführt werden muss. Denn die Fluchtbewegungen nach Europa finden in einem Kontext statt, in dem auch ohne sie der nach dem 2. Weltkrieg geschlossene sozialstaatliche Klassenkompromiss zunehmend aufgekündigt wird. Die Unsicherheit ist also schon vor den Fluchtbewegungen da, aber diese vergrößern sie weiter. Hinzu kommt, dass die Linke längst gespalten ist: in eine, welche den Sozialstaat, und eine andere, welche die Menschenrechte hochhält. Ganz zu schweigen von jener dritten „Linken“, die direkt davon profitiert, den Zuwanderern sowohl den Sozialstaat als die Menschenrechte vorzuenthalten. Zumindest von der zweiten Linken fühlen sich viele Arbeiter allein gelassen.
Die Feststellung ist nur noch Nostalgie: dass es einmal eine linke Bewegung gab, die sowohl den Kampf für die soziale Emanzipation im eigenen Land als auch den globalen Kampf für die Menschenrechte zusammenhielt. In Europa erreichte diese Linke den Wohlfahrtsstaat – dass er nur in den nationalen Grenzen funktioniert, war unausweichlich, aber enthielt auch einen Keim zur Spaltung. So dass „soziale Solidarität“ heute auch zum Kampfruf derer werden kann, die sich gegen alles abschotten wollen, was von außen kommt. Es wird nicht leicht sein, hier wieder eine Brücke zu bauen. Aber zumindest die Debatte muss darüber beginnen.