Sie wissen, was sie tun
Von dem Augenblick an, als sie ihr Amt antrat, ist die Präsidentin der Abgeordnetenkammer Laura Boldrini immer wieder zum Ziel übelster Beschimpfungen, sexistischer Beleidigungen und Gewaltdrohungen geworden. Sie reagiert darauf mit einer Würde und Zurückhaltung, die mir Respekt abverlangt, auch wenn ich den Eindruck habe, dass sie ihre Aufgabe, auch aufgeheizte oder gar tumultartige Parlamentssitzungen angemessen zu leiten, manchmal überfordert (ich habe gut reden …).
Der vorläufige Höhepunkt wurde vor ein paar Wochen erreicht. Auf einem Lega-Fest im lombardischen Städtchen Soncino tauchte plötzlich neben dem Hauptredner Salvini eine aufblasbare Gummipuppe auf, die fröhlich hin und her geschwenkt wurde. Ein seltsamer und nicht gerade geschmackvoller Einfall, könnte man meinen. Aber nun ja, die „Leghisti“ sind nicht gerade für geistigen Feinsinn bekannt (wir erinnern uns: Ihr früherer Leader Bossi pflegte seine politische Meinung mit Hilfe von Maulfurzen und Stinkefinger zum Ausdruck zu bringen). Dann wurde der Sinn des Puppenspektakels klar: „Schaut her, hier ist doch die Doppelgängerin der Boldrini!“ rief Salvini seinen Anhängern zu. Lautes Gelächter und Gejohle, allgemeine Begeisterung. Der Abend war gerettet.
Als Reaktion auf einsetzende Kritik setzte Salvini dann noch einen drauf: mit dem herabwürdigenden Hashtag „#sgonfiamolaboldrini“ („Lassen wir der Boldrini die Luft ab“). Boldrinis knapper Kommentar: „Frauen sind keine Gummipuppen. Und die politische Auseinandersetzung führt man mit Argumenten, wenn man welche hat“.„Sie muss physisch eliminiert werden“
Damit nicht genug. Ein paar Tage später – ermuntert durch ihr Vorbild Salvini – postete die Lega-Fraktionsvorsitzende eines kleinen Ortes in Venetien auf Facebook: „Laura Boldrini muss physisch eliminiert werden!“. „Anlass“: Boldrini hatte erklärt, man solle angesichts der Ereignisse in der Türkei überlegen, ob man den vom Erdogan-Regime verfolgten Personen Schutz bietet.
Physisch eliminiert, also getötet. Die nachträgliche „Richtigstellung“ der Monica Bars – so heißt die für den Mordaufruf verantwortliche Lega-Frau – ist nicht minder unglaublich. Durch ihren Rechtsanwalt ließ sie mitteilen, „der Sinn ihres Satzes ist so zu verstehen, dass Boldrini aus ihrem politischen Amt (nebenbei: es handelt sich um ein institutionelles und nicht ein politisches Amt, MH) entfernt werden soll“. Ach so. Das war gemeint. Kann man unter „physisch eliminieren“ einen Rücktritt oder die Entfernung von irgendeiner Funktion verstehen? Wohl kaum.
Die meisten Medien und viele Politiker des Regierungslagers und der Opposition verurteilten die Angriffe, Staatspräsident Mattarella bekundete seine Solidarität. Der Fraktionsvorsitzende von SEL/SI Scotto schlug allen Fraktionschefs vor, die Morddrohung ebenfalls zu verurteilen und eine parteiübergreifende Solidaritätserklärung zu verabschieden. Eine Selbstverständlichkeit? Weit gefehlt. Die Lega verweigerte ihre Zustimmung mit dem „Argument“, ihr Chef Salvini würde auch ständig bedroht und mit ihm würde sich keiner solidarisieren. Und außerdem: Boldrini agiere als Parlamentspräsidentin nicht „super partes“.
Unheilige Allianz von Lega und 5SB
Doch nicht nur die direkt betroffene Lega verweigerte sich, sondern mit exakt der gleichen Begründung auch die 5-Sterne-Bewegung, die Boldrini ebenfalls schon lange im Visier hat: Sie sei nicht „super partes“, so die 5SB-Vertreterin, und die Solidaritätserklärung eine „politische Instrumentalisierung“. Wenn man also der Meinung ist, dass die Parlamentspräsidentin bei der Ausübung ihres Amtes nicht die notwendige Neutralität wahrt, braucht man Mordaufrufe gegen sie nicht zu verurteilen.
Laura Boldrini, die in ihrer Funktion (nach dem Staatspräsidenten und dem Vorsitzenden des Senats) das dritthöchste Staatsamt bekleidet, war vor ihrer Wahl viele Jahre Sprecherin des UNHCR für Südeuropa und vertrat engagiert und kompetent die Belange von Flüchtlingen. Sie wurde 2013 auf der Liste der linken SEL gewählt. Dass sie für die xenophobe, rechtspopulistische Lega Nord zum Hassobjekt wurde, wundert mich nicht. Dennoch überrascht und entsetzt mich immer wieder das Ausmaß verbaler Gewalt, die sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch in den Äußerungen einiger Politiker und öffentlicher Amtsinhaber gegen sie entlädt. Da geht es nicht um harte, scharfe Kritik, sondern um Gewalt gegenüber einem Menschen. Verbale Gewalt ist auch Gewalt; aus ihr können Taten folgen, wie man gerade in der heutigen Zeit leider immer wieder erfährt. Und da Boldrini eine Frau ist, haben die Angriffe und Drohungen meist sexistischen Charakter.
Die sexistische Klaviatur
Auch Grillo spielte schon Ende Januar 2014 auf dieser Klaviatur: Da hatte Boldrini den fortwährenden „ostruzionismo“ der 5SB gegen ein Regierungsdekret damit beendet, dass sie das parlamentarische Instrument der sogenannten „Guillotine“ anwendete. Dies soll verhindern, dass – wie im damaligen Fall – die Beratung eines Gesetzesvorhabens durch Obstruktion über den vorgegebenen Zeitrahmen hinaus verschleppt und damit dessen Verabschiedung verhindert wird. Dass die 5SB die Anwendung der „Guillotine“ scharf kritisierte, ist ihr verbrieftes Recht. Doch dabei blieb es nicht. Auf seiner Facebookseite postete Grillo – als Kommentar zu einem satirischen Video, in dem ein Grillino mit einer Pappfigur mit Boldrinis Gesicht im Auto sitzt – folgende Frage: „Was würde passieren, wenn Du Dich plötzlich mit der Boldrini im Auto wiederfindest?“. Ja, was wohl, Jungs? Die Antworten kamen schnell und zahlreich: von Vergewaltigung über grün und blau schlagen bis zur Zwangsprostitution. Dort eine Gummipuppe, die man aufblasen oder der man die Luft ablassen kann, hier eine stumme Pappfigur. Kein Mensch, sondern ein Ding. Mit dem man(n) machen kann, was man(n) will.
Ein Tag lang waren die „Kommentare“ zu lesen, dann distanzierte sich die 5SB von ihnen mit einer Erklärung und löschte sie. Die Kommentare seien nachts gepostet worden, als die Seite nicht kontrolliert wurde, hieß es. Aber hat man sich auch von Grillos Aufforderung distanziert, die alles auslöste? Natürlich nicht. Und keiner soll mir bitte erzählen, dass Grillo nicht wusste, was danach kam. Zündeln und dann die Hand zurückzuziehen, nachdem der Brand entfacht wurde. Eine bekannte Methode.
Boldrini ist für diese Art menschenverachtender Angriffe nur ein exponiertes Beispiel. Viele Journalisten, politische Gegner, interne Kritiker erfahren Ähnliches. Die politische Kultur und das Niveau der öffentlichen Auseinandersetzung verkommen – nicht nur in Italien, aber dort in besonders krasser Form – immer mehr. Die sozialen Netzwerke und die Internetkommunikation zeigen ihre ganze Zweischneidigkeit: einerseits Segen, weil es vielen ermöglicht, sich einzumischen und öffentlich zu artikulieren. Andererseits Fluch, weil es Hetzern, Hasspredigern und Demokratiefeinden ein Forum und einen Resonanzboden verschafft. In Italien und anderswo.