Messen mit zweierlei Maß

In Italien gibt es ein Sprichwort, das besagt: „due pesi e due misure“, was etwa der deutschen Redewendung „mit zweierlei Maß messen“ entspricht. Es beschreibt ziemlich zutreffend die Reaktion der Führung der 5-Sterne-Bewegung (5SB) auf die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen ihre Vertreter in Palermo und Bologna. Sie stehen im Verdacht, 2012 und 2014 Unterschriften für die Zulassung zu den Kommunal- bzw. Regionalwahlen gefälscht zu haben.

Ermittlungen gegen 5-Sterne-Bewegung wegen Unterschriftenfälschung

In Palermo hat die Staatsanwaltschaft gegen 10 „Grillini“ Ermittlungsbescheide ausgestellt, darunter die Abgeordneten Riccardo Nuti, Claudia Mannino und Giulia Di Vita. Sie sollen sich aktiv daran beteiligt haben, dass nachträglich ca. 1200 Unterschriften in die Wahlliste hineinkopiert wurden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Originalliste fehlerhafte Angaben über einen der Kandidaten enthielt, was zur Ungültigkeit geführt hätte. Fälschungen und andere Unregelmäßigkeiten bei der Sammlung von Unterschriften für die Wahlliste lautet auch in Bologna der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Dort ist u. a. ein enger Vertrauter von Max Bugani betroffen, der gemeinsam mit Grillos „Spin Doctor“ Davide Casaleggio die bewegungsinterne Online-Plattform „Rousseau“ betreibt.

Wären Abgeordnete und Funktionsträger anderer Parteien von solchem schwerwiegenden Verdacht – die Fälschung von Wahllisten ist nicht einmal in Italien ein Kavaliersdelikt – betroffen gewesen, können sich auch Phantasielose das grillinische Geschrei vorstellen. Der Ruf nach der politischen Guillotine (methaphorisch gesprochen) hätte nicht lange auf sich warten lassen. Und man hätte natürlich den Vorfall als weiteren Beleg für die Verdorbenheit der Parteien, besser noch der ganzen politischen Klasse gewertet – die Grillini selbstredend ausgenommen.

„Vorsorgliche Suspendierung“ soll Wogen glätten

Wenn es aber um die eigenen Leute geht, hält sich der jakobinische Furor in Grenzen. In den genannten Fällen hieß es zunächst, es habe sich doch „nur um einen technischen Fehler“ gehandelt (Luigi Di Maio, Vizepräsident der Abgeordnetenkammer) und um ein „Drama der Unwissenheit“ (Beppe Grillo) – das Hineinkopieren von Unterschriften spricht nicht gerade für „Unwissenheit“. Immerhin forderte der „Garant“ der Bewegung die von den Ermittlungen Betroffenen auf, sich bis zur Klärung der Vorwürfe selbst „zu suspendieren“. Was bedeutet, dass sie weiterhin ihr Abgeordnetenmandat (einschließlich des Bezugs der Diäten) ausüben, allerdings als Fraktionslose (im sogenannten „gruppo misto“). Eine ziemlich milde Form der Sanktion angesichts der Schwere der Vorwürfe und der wiederholten Beteuerung, man werde „keine Gnade walten lassen, wenn jemand Fehler begeht“. Ein Grundsatz, der sich offensichtlich nur dann voll entfaltet, wenn es darum geht, mit innerparteilichen „Dissidenten“ kurzen Prozess zu machen (durch Rauswurf).

Doch so leicht ließ sich die Sache in Palermo nicht aus der Welt schaffen. Einige der Betroffenen folgten der Aufforderung Grillos, nicht aber die Abgeordneten Nuti, Mannino und Di Vita. Und nachdem diese nicht einmal bereit waren, die Fragen der Ermittler zu beantworten („Ich möchte von meinem Recht, zu schweigen, Gebrauch machen“) und sich gar weigerten, vor den Justizbehörden eine Schriftprobe abzugeben, war es – auch angesichts des wachsenden Murrens an der „Basis“ – unmöglich, das Ganze als erledigt zu betrachten.

Also wurde von dem frisch eingesetzten Disziplinarausschuss der 5SB (ein Triumvirat sog. „Probi Viri“) die „vorsorgliche Suspendierung“ der drei Abgeordneten und einer ebenfalls in den Fall verwickelten Fraktionsmitarbeiterin beschlossen. Die Suspendierung solle bis zur Klärung des Sachverhalts durch die Justizbehörden gelten. Auch hier wieder eine Nachsicht, welche die Grillini nur gegenüber ihren eigenen Leuten walten lassen.

Gegenüber politischen Gegnern gelten andere Maßstäbe

Sind Vertreter anderer Parteien betroffen, gilt es nämlich „Rücktritt sofort!“. Siehe den Fall des Bürgermeisters Marino in Rom, dessen Kopf der grillinische „Frontmann“ Di Battista im Kapitol lautstark forderte, noch bevor gegen diesen irgendwelche Ermittlungen liefen. Doch wenn die neugewählte 5SB-Bürgermeisterin Virginia Raggi hartnäckig an einer Umweltdezernentin festhält, gegen die der Staatsanwalt bereits ermittelt, ist für die Grillini die Welt in Ordnung.

Grillo: ein Herz für die Verfassung?

Grillo: ein Herz für die Verfassung??

Und manchmal braucht es nicht einmal einen Anlass, um Vertreter anderer Parteien als Verbrecher zu bezeichnen. So wie im Fall der 5SB-Senatorin Enza Blundo, die anlässlich der Aufhebung der Immunität eines Senators von Mitterechts in einem Tweet den PD-Fraktionsvorsitzenden im Senat Zanda, der nie im Zusammenhang mit irgendwelchen Affären oder geschweige Ermittlungen stand, ebenfalls als korrupt diffamierte: „Wir haben soeben abgestimmt, um den Senator Caridi den Justizbehörden zu übergeben, nun warten wir darauf, ihr auch alle anderen Korrupten zu übergeben, angefangen mit Zanda“ (welcher wohlgemerkt ebenfalls für die Aufhebung der Immunität von Caridi stimmte). Nach heftigen Reaktionen auf ihre Äußerung löschte die Senatorin den Tweet und meinte, sie sei „missverstanden“ worden und hätte gar nicht „Zanda persönlich gemeint“. Obwohl es da schwarz auf weiß stand.

Dass führende Vertreter der 5SB in Puncto Integrität mit zweierlei Maß messen, ist schon problematisch genug. Noch problematischer ist es, wenn sie sich in der Kampagne für ein Nein beim Referendum als „Hüter der Verfassung“ präsentieren und gleichzeitig die Fälschung von Unterschriften auf Wahllisten als „Fehler“ oder „Unwissenheit“ herunterspielen. Aber was soll’s: Dass ausgerechnet die Grillini auf einmal ihr Herz für die Verfassung entdeckten (ein solch großes rotes Herz trug Grillo bei einer Demonstration für das „Nein“ in Rom symbolisch vor sich her), ist grotesk. „Das politische System in Italien ist verdorben und wird kollabieren, auch weil das Netz alle Vermittlungsinstanzen ausschalten wird“ erklärte Grillo nach dem Einzug seiner Leute ins Parlament 2013. „Wir werden das Parlament wie eine Thunfischbüchse öffnen“. Das entspricht zwar seiner Vorstellung von „direkter Demokratie“, aber verfassungskonform ist es nicht.