Renzis Niederlage
Matteo Renzi ist heute Abend beim Staatspräsidenten gewesen und hat dort offiziell seinen Rücktritt als Ministerpräsident eingereicht. Mattarella hat den Rücktritt angenommen und beginnt morgen eine Konsultationsrunde mit allen im Parlament vertretenen Parteien, bevor er weitere Entscheidungen trifft. Seine Funktion als Generalsekretär der PD hat Renzi bis jetzt nicht aufgegeben. Er bleibt also im Spiel.
Renzis Niederlage bei der Abstimmung über die Senatsreform war verheerend. Von gut 50 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich knapp 33 Millionen (bzw. 65 %) an ihr mit gültigen Stimmen, für ein Referendum ungeheuer viel. Über 13 Millionen (40,9 %) stimmten der Reform zu, über 19 Millionen (59,1 %) lehnten sie ab. Klarer kann eine Abstimmung nicht ausgehen. Für Renzi, der als Reformator in die italienische Geschichte eingehen wollte, ist es vermutlich die schwerste Niederlage seines Lebens. Die Folgen für Italien und für Europa sind, wie man so sagt, „noch nicht abzusehen“.
Ursachensuche
Zunächst: Was hat Renzi falsch gemacht? Um die Frage zu beantworten, muss man bis zum 17. Februar 2014 zurückgehen, als der damalige Staatspräsident Napolitano Renzi mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte, welche die Regierung Letta ablöste. Das Argument, mit dem Renzi zuvor Letta in der PD an die Wand gespielt hatte, war seine zu langsame Reformpolitik. Renzis Empfehlung war der „Nazareno-Pakt“, den er als Generalsekretär der PD mit Berlusconi verhandelt und im Januar 2014 abgezeichnet hatte. Er enthielt die Grundzüge nicht nur der Senatsreform, sondern auch der inzwischen verabschiedeten Wahlrechtsreform. Da Napolitano schon seit langem darauf drängte, die „institutionellen“ Reformen mit einer möglichst breiten parlamentarischen Mehrheit zu verabschieden, unterstützte er den Wechsel von Letta zu Renzi.
Hinterher ist man klüger. Aus heutiger Sicht beging Renzi zwei Fehler. Der eine betrifft den Inhalt: Durch die Verhandlungen mit Berlusconi bekamen die verabredeten Reformen, vor allem in ihrer Kombination, eine Schlagseite zum „Autoritären“, die den Dauerkonflikt mit der PD-Linken vorprogrammierte. Allerdings kann man dies nicht allein auf Berlusconis Einflussnahme zurückführen – dafür ist Renzi zu ähnlich „gestrickt“. Weshalb auch in den Folgejahren, als das Bündnis mit Berlusconi längst geplatzt war, Renzis Reformprojekt diese Schlagseite behielt. Erst vor wenigen Wochen rang er sich zur Absichtserklärung durch, ein weniger autoritäres Wahlgesetz durchzusetzen. Aber da war es zu spät.
Zweitens beging Renzi wohl einen strategischen Fehler, als Berlusconi später aus Gründen politischer und persönlicher Opportunität (er hatte sich – vergeblich – von der Vereinbarung Straffreiheit erhofft) die Nazareno-Vereinbarung wieder aufkündigte und ins Lager der Reformgegner wechselte (sein Geschwätz von gestern hat Berlusconi noch nie gekümmert). Sein Projekt einer Senatsreform hätte Renzi damals aufgeben können, denn nun war der Wunsch Napolitanos nach einer möglichst breiten, die Koalition überschreitenden Mehrheit nicht mehr zu erfüllen. Von nun an konnte Renzi die Reformen nur noch mit Mühe durchbringen – zumindest im Senat, in dem seine Mehrheit knapp ist. Und nicht mit der Zweidrittelmehrheit, die in Italien laut Verfassung erforderlich ist, um eine abschließende Volksabstimmung über die Verfassungsänderung überflüssig zu machen.
Ein Schuss Hybris
Die Spekulation scheint heute müßig, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Renzi damals das Projekt Senatsreform wieder aufgegeben hätte. Es gab gute Gründe, es fortzusetzen. Bei den Europawahlen im Mai 2014 erzielte die PD über 40 % der Stimmen, Renzis persönliches Ansehen erreichte Spitzenwerte. Er schien im Aufwind. Das führte im Folgejahr zu einem weiteren folgenreichen Fehler: Nun erklärte er das Referendum auch zu einem Plebiszit über seine Amtsführung. Dahinter stand die Hoffnung: Renzis Ansehen bringt das Referendum mit Glanz über die Hürden, und auf der Welle dieses Erfolgs kann er bis zum Ende der Legislatur (2018) schwimmen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Heute sieht man die Hybris. Jede Regierung verschleißt sich, insbesondere wenn sich der von ihr verheißene wirtschaftliche und damit auch soziale Erfolg nicht einstellt. Mario Calabresi, der neue Chef der Repubblica, brachte es nach der Niederlage auf den Punkt: „Renzi hat vergessen, dass es in den westlichen Demokratien keine Regierung gibt, die es nach den ersten tausend Tagen schaffen könnte, eine schlichte Ja-Nein-Wahl zu überstehen. Nicht einmal eine Angela Merkel könnte es. Schaut auf die amtierenden Präsidenten und Premiers: Keiner verfügt über eine Konsens, der 40 % übersteigt.“ In Italien schlossen sich plötzlich alle dem NEIN an: nicht nur die Anhänger der 5-Sterne-Bewegung, der Lega, eines Teils der Anhänger Berlusconis und der radikalen Linken. Sondern auch die Frustrierten und Unzufriedenen, die Arbeitslosen und Prekären und alle diejenigen, die sich vor Unsicherheit, Verarmung und Flüchtlingen fürchten. Dass sich Renzi auf dieses Risiko einließ, war mutig – und die Abschaffung des „perfekten“ Bikameralismus notwendig. Aber in der Idee, die Abstimmung zu einem Plebiszit über sich selbst zu machen, steckte auch Dilettantismus und ein Schuss Hybris. Was sich jetzt gerächt hat. Und vorerst einen Trümmerhaufen hinterlässt.
Abgang oder Nicht-Abgang?
Wie geht es weiter? Zunächst hatte Renzi, der Protagonist der letzten drei Jahre, das Wort. Die Widersprüche, in die er sich schon in den ersten Stunden nach der Niederlage verwickelte, zeigen seinen Charakter. Zunächst hält er in der Pressekonferenz, die er schon in der Wahlnacht anberaumt, eine großartige Rede: Die vergangene Schlacht um das Referendum war ein „Fest der Demokratie“. Er sei der Unterlegene und übernehme dafür die ganze Verantwortung usw. Am nächsten Tag werde er zum Staatspräsidenten gehen und seinen Rücktritt einreichen. Um dann Arm in Arm mit seiner Frau Agnese den Raum zu verlassen. Der Abgang eines Geschlagenen, aber in Schönheit und ohne Larmoyanz.Ein paar Stunden später hatte er seine Meinung schon wieder geändert. Denn inzwischen hatte er mit seinen engsten politischen Vertrauten gesprochen, unter anderem mit Luca Lotti, der schon am Morgen twitterte: „Wir bekamen 2012 und 2014 40 %. Jetzt können wir von den 40 % ausgehen, die wir beim Referendum bekamen“. Soll besagen: Die 60 %, die bei diesem Referendum gegen uns stimmten, verteilen sich bei Neuwahlen wieder auf die verschiedenen Lager. Das Ergebnis ist nur eine scheinbare Klatsche. Wir bleiben die stärkste Kraft, an der auch in Zukunft niemand vorbeikommt.
Plötzlich hatte Renzi wieder einen Plan: Die Initiative zu behalten, ist alles, „Grillo und die anderen sollen sich nicht das Verdienst vorgezogener Neuwahlen zuschreiben können“. Er selbst schlägt sie vor, und zwar als erster. Ein erstes Sondierungsgespräch mit Mattarella hatte zu dem Ergebnis geführt, dass Renzi wenigstens noch bis zu dem Moment im Amt bleiben muss, bis der Haushalt 2017 durch den Senat gebracht ist. Dann aber, so der Plan, geht Renzi offiziell zum Staatspräsidenten und reicht seinen Rücktritt ein, verbunden mit der Forderung nach sofortigen Neuwahlen. Ohne ein Interregnum, das noch die Regierungsgeschäfte übernimmt. Gewählt wird im Januar oder Februar, mit dem Italicum, wie es ist, vielleicht noch mit ein paar vom Verfassungsgericht geforderten Änderungen (die möglichst so formuliert sind, dass man darüber nicht noch mit irgendjemand in Verhandlungen eintreten muss – womit auch die PD-intern ausgehandelten Veränderungswünsche hinfällig wären). Dieses Italicum gilt nicht für den Senat? Da dieser ja nun weiterbesteht, gälte für ihn das Verhältniswahlrecht. Dass es durch das unterschiedliche Wahlrecht zu unterschiedlichen politischen Mehrheiten kommen kann, ist in Kauf zu nehmen.
Ein Wahnsinnsplan
Es ist ein Plan, fast des „genialen“ Feldherren würdig, der auch um keinen Preis die Initiative verlieren wollte und die „Ardennen-Offensive“ startete, als seine Panzer schon keinen Sprit mehr hatten. Der „sichere“ 40 %-Block ist eine Schimäre. Die Analyse der Wahlforscher zeigt, dass in die 40 %, die diesmal noch für das JA stimmten, auch eine ganze Reihe rechter Wählerstimmen eingingen – z. B. 25 % der Anhänger Berlusconis, die sich noch daran erinnern, dass dieser einmal selbst die Senatsreform befürwortete. Die aber bei Neuwahlen sofort wieder „rechts“ wählen würden. Aus eigener Anschauung weiß ich, wie viele „linke“ Wähler sich nur unter Bauchschmerzen zum JA entschieden, deren Stimmen sich Renzi bei der nächsten Wahl jedoch keineswegs sicher sein kann. Andererseits zeigt der mehrheitliche 60 %-Block mehr Kohärenz, als es Lotti und Renzi glauben möchten. Schon bei den letzten Gemeinderatswahlen bröckelten die ideologischen Mauern zwischen der 5-Sterne-Bewegung und Salvinis Lega. Die gemeinsame Begeisterung über Trumps Sieg hat die Freundschaft weiter gefestigt (die grillinische Bürgermeisterin Raggi hat Trump schon nach Rom eingeladen). Der jetzige Sieg beim Referendum wird das Bewusstsein weiter vertiefen, wieviel vereint zu erreichen ist. Denn die Macht ist süß.
Renzis Plan ist der Plan eines Vabanquespielers, der nun plötzlich doch nicht mehr zur Kenntnis nehmen will, dass er verloren hat. Er scheint jedoch in Staatspräsident Mattarella ein Gegenüber zu finden, das ihm gewachsen ist und seine institutionelle Macht über das Verkünden von Neuwahlen auch zu nutzen gedenkt. Was sich jetzt eher abzeichnet, ist die Bildung einer sog. „institutionellen“ Übergangsregierung, der zumindest die Erarbeitung eines Wahlrechts für beide Kammern obliegt, das der Prüfung des Verfassungsgerichts standhält. Dann kann man vielleicht Neuwahlen ins Auge fassen. Bis dahin wird es noch etwas dauern.
Inzwischen hat Pisapia, den wir in den letzten Tagen in diesem Blog zu Wort kommen ließen, einen Anlauf zu einer neuen Sammlungsbewegung links von der PD genommen, aber ohne die Sektierer, die jetzt die Champagner-Korken knallen lassen. Man wird sehen, ob daraus mehr als eine Totgeburt wird.
Eine Lehre lässt sich aus Renzis gescheitertem Reformversuch ziehen: Die drei Lager, aus denen Italiens Wählerschaft gegenwärtig besteht, werden auf absehbare Zeit jeden Versuch einer Verfassungsreform blockieren.