„Wir sind nicht die Linke des Nein, Nein, Nein“
(1) „Für viele linken Italiener, u. a. für mich, liegen die Dinge anders. Wir haben über den Inhalt der Reform abgestimmt, und zwar mit Nein, weil sie ‚eine Reduktion der Demokratie‘ vorschlug (so das Urteil eines sachlichen Verfassungsrechtlers wie Ugo De Siervo, der alles andere als ‚Antirenzianer‘ ist). Matteo Renzi … schlug vor, die Reduktion von Repräsentativität und Partizipation gegen mehr Entscheidungsfähigkeit zu tauschen. Mit Ja stimmten diejenigen, die meinten, sich den Verzicht auf Repräsentativität leisten zu können, weil sie ökonomisch und sozial ausreichend abgesichert sind. Nein sagten diejenigen, die nur dieses Votum hatten, um sich zu verteidigen. Allein das müsste eigentlich schon ausreichen, um deutlich zu machen, dass das Nein etwas mit dem Horizont der Linken zu tun hat.Vorbemerkung: Vor wenigen Tagen brachten wir hier den Artikel „Die Linke des Nein, Nein, Nein“ von Michele Serra. Im Folgenden dokumentiere ich (mit kleinen Kürzungen) die Antwort von Tomaso Montanari (am 10. 12. unter dem o. g. Titel in der „Repubblica)“. Montanari ist ein Repräsentant dieser Linken und kein uninteressanter Mann: Er lehrt Kunstgeschichte an der Universität Neapel und setzt sich für den Erhalt und die Pflege des kulturellen Erbes Italiens ein. Seine Antwort beginnt mit einem Serra-Zitat, in dem dieser darlegt, dass die Linke, die beim Referendumg für das NEIN eintrat, vor allem Renzi treffen wollte. Dies bestätige ihre Ablehnung des Vorschlags von Pisapia, die anti-renzianische Linke wieder zusammenzubringen. Darauf antwortet Montanari (die Zahlen vor den Absätzen stammen von mir, H.H.):
(2) Aber es gibt einen tieferen Grund. Brexit, Trumps Sieg und jetzt der italienische Sieg des Nein brachten viele Beobachter und Akteure (unter ihnen Giorgio Napolitano) dazu, auf die Risiken des allgemeinen Wahlrechts hinzuweisen: Die Demokratie beginnt, zu einer Gefahr zu werden, weil die Mehrheit mit ihren Wahlstimmen das System umstürzen kann. Warum kam es so weit? Weil die Ungleichheit in den Staaten des Westens so sehr angewachsen ist, dass die Mehrheit der Bürger zu allem bereit ist, nur um den Stand der Dinge zu verändern. Hier kommen wir zum Kern der Reform: Wenn eine gewisse Grenze überschritten wird, wird die Ungleichheit inkompatibel mit der Demokratie. Demzufolge reduziert man entweder die Ungleichheit oder die Demokratie. Die Reform entschied sich für die zweite Option, was nach meiner Meinung das Gegenteil dessen ist, was jede Linke machen sollte.
(3) Andererseits entspricht diese Entscheidung durchaus der Linie der Renzi-Regierung: Was bitte ist links an den Vouchers und an einem Jobs Act, der Arbeitnehmer zur Ware degradiert, indem das Prinzip eingeführt wird, dass man entlassen darf, wenn man nur dafür bezahlt? Was ist links an einmaligen Bonuszahlungen, die nicht einmal versuchen, strukturelle Ungleichheiten zu verändern, sondern sie nur mit einer Art karitativer Almosen seitens des Staates zu lindern? Was ist links daran, in der EU ‚mit der Faust auf den Tisch zu schlagen‘, statt eine Achse zu schaffen, die in der Lage ist, eine Neuverhandlung der EU-Verträge (angefangen mit Maastricht) zu fordern? … Was ist daran links, allein auf Zementifizierung zu setzen und sie einschränkende Regelungen abzubauen? Was ist links an einer ‚guten Schule‘, welche das Ziel verfolgt ‚hochqualifizierte Menschen nach den Erfordernissen des Marktes auszubilden, und sie aus den Hemmnissen zu befreien, die aus einer allzu klassischen und theoretischen Bildung resultieren‘ (so Bildungsministerin Giannini)? Was ist daran links, den öffentlichen Schutz unseres historischen und künstlerischen Schatzes abzubauen, indem man Archive und Bibliotheken schließt und die großen Museen – die jetzt zu ‚großen Investionsattraktionen‘ werden – bis zum Äußersten kommerzialisiert?
(4) Zusammengefasst lautet der zentrale Punkt: Zwar sind sich Rechte und Linke heute darin einig, dass es zur Marktwirtschaft keine Alternativen gibt; aber die Linke glaubt nicht, dass es deswegen auch eine Marktgesellschaft geben muss. Und während die erste immer nur ‚Tina‘ (there is no alternative) wiederholt, arbeitet die zweite daran, eine praktikable Alternative zur aktuellen Situation zu schaffen. Dass die PD ‚Tina‘ zu ihrem Motto gemacht hat, ist nicht Renzis Schuld. Aber er ist der brillanteste Fürsprecher dieser Verwandlung. Wenn die Politik in einer Marktgesellschaft nichts anders sein kann als Marketing, so ist die Art Renzis zu denken, zu sprechen und zu regieren geradezu exemplarisch. Also lautet die Frage: Macht es Sinn – wie Pisapia vorschlägt – eine neues linkes Subjekt zu schaffen, das schon bei seiner Geburt das „Tina“-Dogma verinnerlicht? Die wirkliche Aufgabe ist die Schaffung eines Subjekts, das es sich zum Ziel setzt, die Ungleichheit zu reduzieren – und nicht die Demokratie. Eine Kraft, die wirklich beabsichtigt, ‚eine Welt zu heilen, die von einem Übel nach dem anderen heimgesucht wird, wo der Reichtum wächst und die Menschen verderben‘ (Oliver Goldsmith, The Deserted Village). Jetzt ist der Moment gekommen, um sie zu reparieren und nicht ihre perverse Mechanik zu ölen.“
Kommentar:
(1) Zunächst will Montanari nachweisen, dass es der Linken beim Referendum doch „um die Sache“ ging, weil Renzi mit seiner Reform nichts geringeres als die „Reduktion der Demokratie“ angestrebt habe. Tatsächlich meinten mit De Siervo auch andere Verfassungsrechtler, dass in Kombination mit dem Wahlgesetz die Verfassungsreform die Exekutive zu sehr stärke und dem Parlament zu viel Repräsentanz nehme. Aus diesem Grund drängten auch Pisapia außerhalb und Cuperlo innerhalb der PD auf eine Reform des Wahlgesetzes. Dass sie damit nicht ganz erfolglos waren (die PD-Führung rang sich zu einer entsprechenden Absichtserklärung durch), lässt Montanari unter den Tisch fallen – sein Argument braucht den eindimensional autoritären Renzi, der das Parlament entmachten will. Montanari scheint zu unterstellen, das Maß der Demokratie sei die Repräsentanz. Aber die Demokratie leidet genau so unter dem Nicht-Entscheiden, dem Nicht-zu-Potte-Kommen. Über Einzelheiten kann man streiten (die kombinierte Wirkung der Senatsreform mit dem Wahlgesetz ist eine wichtige „‚Einzelheit“), aber die Stärkung der Entscheidungsfähigkeit ist als solche noch kein Demokratieverlust. Sind die europäischen Demokratien ohnen „perfekten Bikameralismus“ wirklich die schlechteren Demokratien?
Dann die Behauptung, mit „Ja“ hätten gestimmt, die „es sich ökonomisch und sozial … leisten können“, während mit Nein diejenigen stimmten, die „nur dieses Votum haben, um sich zu verteidigen“. Eine klassische Halbwahrheit, die vielleicht erklärt, warum die Zustimmung zur Reform im Süden am geringsten war. Die Wähleranalysen zeigen aber auch, dass 90 % der Lega- und 75 % der Berlusconi-Anhänger für Nein stimmten, und die bestanden sicherlich nicht nur aus sozial Abgehängten. Aber für Montanaris Gedankengang ist die Behauptung wichtig, es handele sich hier um eine Art Klassenkampf, in dem sich „die Linke“ natürlich auf die Seite des Neins, d. h. der Abgehängten zu stellen habe. Es ist der erste Baustein seiner Verschwörungstheorie.
(2) Im zweiten Absatz kommt Montanari zum „tieferen Grund“, d.h. seiner Verschwörungstheorie. Satz I: Die Ungleichheit in der Welt wird immer größer. Satz II: Sie wird damit auch immer inkompatibler mit der Demokratie. Daraus folgt Satz III: Um die Ungleichheit ungehindert weiter vertiefen zu können, müssen ihre Agenten die Demokratie abschaffen. Für die linke Tradition ist dieses Schema zwar ein wenig schlicht (man könnte auch von einem fortwährenden Spannungsverhältnis reden). Aber sein Vorteil besteht darin, dass sich die Frage, wer diese Agenten sind, nach Belieben beantworten lässt. Für Montanari sind es Renzi, die PD und global wohl auch Hillary Clinton. Als weiteren Agenten hat er den ehem. Staatspräsidenten Napolitano ausgemacht. Hatte er nicht Renzi den Auftrag zur Senatsreform gegeben und diese bis zuletzt unterstützt? Und hatte er nicht nach Trumps Sieg gesagt, das sei „einer der bestürzendsten Momente es allgemeinen Wahlrechts in der Geschichte der europäischen und amerikanischen Demokratie“? Montanari hat ihn erwischt: Napolitano will das allgemeine Wahlrecht wieder abschaffen.
(Aus meiner Sicht hat Napolitano nur ausgesprochen, was sich spätestens seit 1933 in ganz Europa herumgesprochen hat: Die Ausübung des allgemeinen Wahlrechts ist keine Garantie gegen desaströse Mehrheitsentscheidungen. Weshalb z. B. viele Verfassungen Grundrechte fixieren, die dem Zugriff des allgemeinen Wahlrechts entzogen sind).
Gegen diese globale Verschwörung, für die die italienische Verfassungsreform ein Etappenziel war, gibt es aus Montanaris Sicht auch eine gute Nachricht, weshalb zu Beginn des Absatzes Brexit, Trumps Sieg und das Nein beim Referendum im gleichen Atemzug genannt werden. Denn hier überall zeigen die Opfer der wachsenden Ungleichheit, dass sie „zu allem bereit“ sind, „um den Stand der Dinge zu verändern“. Das vereint und adelt ihr Nein zugleich. Die Nennung Trumps stiftet den globalen Zusammenhang: hier Millionen gegen Renzi, dort Millionen für Trump. Das Nein zum Referendum, der Brexit und Trumps Sieg sind Stationen einer weltweiten Befreiung. Wo andere Regression, Rassismus und Populismus sehen, ist in Wahrheit die Rettung. Das vereint auch Montanaris Linke mit Grillo. Im Sommer 2016 ernannte ihn Virginia Raggi zu ihrem Chefberater. Und lud Trump, den Mann des Big Business, nach Rom ein. So schließt sich der Kreis.
(3) Dass Montanari Renzi fragt, was an dessen Maßnahmen „links“ sei, ist ein wenig paradox. Die Klage des Kunsthistorikers über die Kommerzialisierung der italienischen Kunst ist berechtigt. Dass er sich deshalb Trump, Grillo und Salvini nähert, ist schon erstaunlicher. Es ist ein Spagat, der das einfache Anhängen an jede Bewegung begünstigt, die „dagegen“ ist. Dass die Reformversuche Renzis Licht und Schatten haben, muss nicht mehr abgewogen werden. Der Jobs Act degradiert den Arbeitnehmer zur Ware – war er vorher „frei“? Waren die 40 % jüngerer Arbeitnehmer „frei“, die unter den alten Gesetzen nicht mehr eingestellt wurden? Ist die „gute Schule“ reaktionär, wenn sie den Schülern nach deutschem Vorbild ein Praktikum in der Arbeitswelt zumutet? Das sind Differenzierungen, die für jede gute Verschwörungstheorie tödlich sind, Welche die Welt dichotomisch ohne Zwischentöne in Schwarz und Weiß aufteilt.
(4) Das Ende ist etwas enttäuschend: Die Marktwirtschaft muss sein, die Marktgesellschaft muss nicht sein. Der Unterschied zur PD besteht darin, dass die Linke daran arbeitet, „eine praktikable Alternative zur aktuellen Situation zu schaffen“. Mit ihren 3 % Stimmen, die sie gegen die PD in die Wagschale wirft? Hauptsache, sie hält sich von den Zumutungen eines Pisapia frei. Dass dieser die Schaffung eines neuen politischen Subjekts vorschlägt, das „schon bei seiner Geburt das ‚Tina‘-Dogma verinnerlicht hat“, ist Montinaris Erfindung. Denn Pisapia will die Schaffung einer neuen linken Sammlungsbewegung außerhalb der renzianischen PD – die sich allerdings dieser PD als Bündnispartner anbietet, um sie nach „links“ zu ziehen. Für Montanari gilt hier das absolute Kontaktverbot.
Fazit: Wenn man Montanari mit der restlichen „Linken des Nein“ identifizieren kann, bestätigt seine Antwort Serras Kritik. Sie hat sich in eine Verschwörungstheorie eingemauert, die begründet, warum Renzi ihr Hauptfeind ist und sie dafür auch in Zukunft mit Salvini und Grillo gemeinsame Sache machen muss.