Das Verfassungsgericht urteilt über das Wahlgesetz
Matteo Renzi war angetreten, um Italien zu reformieren. Gerade auch auf institutioneller Ebene: An die Stelle des „perfekten“ Zweikammersystems sollte ein (imperfektes) Einkammersystem treten (einen Senat sollte es noch geben, aber mit radikal eingeschränkten Kompetenzen), ergänzt durch ein Wahlgesetz, dessen oberste Maxime „Regierbarkeit“ war. Bilanz nach 1000 Tagen: Die Senatsreform ist durchs Referendum gefallen, und nun hat auch noch das Verfassungsgericht wichtige Teile des Wahlgesetzes, das Renzi vor zwei Jahren mit gewaltiger Kraftanstrengung durch die Kammern peitschte, für verfassungswidrig erklärt. Ein Scherbenhaufen. Da es auch in der Politik (wie in der Lyrik) nicht auf die Absicht, sondern aufs Ergebnis ankommt, war Renzis Rücktritt unausweichlich.
Keine Stichwahl
Die wichtigste Neuerung, die das neue Wahlgesetz „Italicum“ bringen sollte, war die Stichwahl. Mit ihr sollte das Unmögliche möglich gemacht werden: In einer tripolaren politischen Landschaft, die beständig von wechselseitigen Blockaden bedroht ist, absolute Mehrheiten garantieren. Der entscheidende Hebel war die „Mehrheitsprämie“, welche im Parlament die absolute Mehrheit bringt und auf jeden Fall vergeben werden sollte: entweder an die Partei, die schon im ersten Wahlgang auf Anhieb über 40 % der Wählerstimmen einfährt. Oder wenn dies, wie gegenwärtig zu erwarten, niemand schafft, an den Sieger der Stichwahl zwischen den beiden Parteien mit den relativ meisten Stimmen. „So dass am Abend nach der (Stich-)Wahl jeder weiß, wer die nächste Regierung stellt“, so Renzis Mantra.
Gerade diese Stichwahl hat nun das Verfassungsgericht am 25. Januar für verfassungswidrig erklärt. Da erst in vier Wochen die schriftliche Begründung folgt, kann man heute die Gründe nur erraten (z. B. die Erfahrung, dass bei Stichwahlen, die über alles oder nichts entscheiden, die Wahlbeteiligung oft gering ist). Aber auch jenseits solcher verfassungsrechtlichen Bedenken dürften nun mancher Wackerstein vom Herzen fallen: Bei einer Stichwahl hätte die 5-Sterne-Bewegung gegenwärtig die Chance, sie zu gewinnen. Als sich Renzi und Berlusconi 2014 auf die Grundzüge des neuen Wahlgesetzes einigten, gingen sie wohl, ohne es explizit zu sagen, von folgender Erwartung aus: Einer von uns beiden wird Erster, der andere Zweiter, und in der Stichwahl treten wir gegeneinander an, ohne die lästige 5-Sterne-Bewegung (von der man damals sowieso glaubte, sie werde nur ein vorübergehendes Strohfeuer sein). Aber inzwischen hat sich die politische Großwetterlage verändert: Berlusconis Rechte ist zerfallen und wird bestenfalls Dritter, Renzis PD und Grillos 5SB liegen mit jeweils ca. 30 % gleichauf. Käme es zur Stichwahl, dann zwischen ihnen. Auch wenn die PD im ersten Wahlgang noch die Nase vorn haben sollte: Spätestens seit 2016 weiß man, welche Dynamik Stichwahlen zwischen der PD und der 5SB auslösen können: Alles, was Beine hat, von ganz Links bis ganz Rechts, stimmt gegen die PD. Den Herren Grillo und Casaleggio, die sich gemeinsam von Trump beflügeln lassen und mit Salvini liebäugeln, hätte mit der Stichwahl die absolute Mehrheit in den Schoß fallen können.
Rückkehr zum Verhältniswahlrecht
Das Votum des Verfassungsgerichts gegen die Stichwahl bedeutet die Rückkehr zu einem Verhältniswahlrecht, das vom „Italicum“ gerade aus den Angeln gehoben werden sollte. Dass das Gericht nicht die Gelegenheit nutzte, gleich auch ein Veto gegen die Mehrheitsprämie einzulegen, wenn eine Partei auf 40 % der Wählerstimmen kommt, war da nicht konsequent. Aber mit 40 % ist heute für niemanden zu rechnen. Die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht verlagert den Kampf um die Bildung einer funktionsfähigen Regierung wieder dorthin, wo in einer repräsentativen Demokratie ihr Platz sein sollte: ins Parlament (auch wenn dies in Italien nun auch weiterhin aus zwei Kammern bestehen wird). Wie in anderen Demokratien werden sich die Parteien erst nach der Wahl nach Bündnispartnern umschauen können. Dass dies gegenwärtig wieder zu einem unstabilen Bündnis zwischen PD und Berlusconis Forza Italia führen könnte, wäre schon schlimm genug, aber der zu zahlende Preis. Mit einer Alternative, die noch katastrophaler wäre: eine Mehrheit für die offene oder versteckte Koalition zwischen der 5SB und Salvinis Lega.
An anderen Regelungen des „Italicums“ hat das Verfassungsgericht kaum Kritik geübt. Zum Beispiel daran, dass in Gestalt der „Listenführer“ für die 100 Wahlkreise etwa 70 % der Abgeordneten von den Parteizentralen ausgesucht werden. Eine Möglichkeit, auf ihre Auswahl Einfluss zu nehmen, hätte der Wähler über ihre „Präferenzen“ nur bei 30 %. Was den Parteizentralen gegenüber ihren Fraktionen ein wichtiges Disziplinierungsinstrument in die Hand gibt. Dies beanstandet das Verfassungsgericht nur in einem eher nebensächlichen Punkt: „Mehrfachkandidaturen“ in verschiedenen Wahlkreisen sind weiterhin erlaubt, aber es soll den Parteigrößen nicht mehr erlaubt sein, nach der Wahl nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, welches Mandat sie annehmen und welches nicht (und damit zu entscheiden, welchem „Parteifreund“ sie ein Mandat zuschanzen bzw. wem nicht).
Eilige und Bremser
Das Verfassungsgericht hat nicht vorgeschrieben, wie das nächste Wahlgesetz aussehen soll. Sondern anhand des „Italicums“ fixiert, wie es nicht aussehen soll. So könnten sich die Kammern damit begnügen, diese Änderungsforderungen in das bereits bestehende Gesetz einzuarbeiten. Sie könnten aber auch alles noch einmal neu aufrollen, z. B. durch Rückgriff auf frühere Wahlgesetze wie das „Mattarellum“. Unter anderem darüber beginnt jetzt das parlamentarische Tauziehen, in dem sich vor allem zwei Lager gegenüberstehen: diejenigen, die „Wahlen sofort“ fordern – am lautstärksten die Lega und die Grillini, die den Schwung ihres Siegs beim Referendum nutzen wollen, und Renzi, der nicht der von ihnen Getriebene sein will – und diejenigen, die bremsen (zu ihnen gehört Berlusconi). Wobei die Bremser in Staatspräsident Mattarella einen gewichtigen Bündnispartner haben, der an das endgültige Wahlgesetz eine weitere Anforderung stellt, die Schnellschüsse verbietet: die Harmonisierung des Wahlverfahrens für beide Kammern, um unterschiedliche politische Mehrheiten zu vermeiden. Da sich das Votum des Verfassungsgerichts vom 25. 1. nur auf das Wahlgesetz für die Abgeordnetenkammer bezieht, wird damit ein weiteres Fass aufgemacht. Insbesondere wenn man auch noch Mattarellas Wunsch ernst nimmt, für das neue Wahlgesetz einen möglichst weitgehenden Konsens zwischen den Parteien zu erzielen.
Auch in der PD deutet sich hier ein Riss an: zwischen denen, die Renzi folgend auf möglichst schnelle Neuwahlen drängen, und denen, die Gentiloni zunächst eine Chance zum Weiterregieren geben wollen. Der Riss könnte sich vertiefen. Die unterschiedliche Eile, mit der man jetzt in der PD ein neues Wahlgesetz anstrebt, dürfte auch davon abhängen.
Eine letzte Bemerkung: Es schien ein Charakteristikum der Ära Berlusconi zu sein, immer „hart am Wind“, d. h. am Rande des Verfassungsbruchs zu segeln (und allzu oft auch über den Rand hinaus). Jetzt zeigt es sich, dass in diesem Punkt Renzi sein gelehriger Schüler war.