Wachsende Armut, ewiges Parteiengezänk
Vorbemerkung der Redaktion: Den folgenden Artikel entnehmen wir wieder dem Bozener „Salto“
Ein 13-jähriges Mädchen ist vor wenigen Tagen in der Klasse einer Mittelschule in Udine ohnmächtig aus seiner Schulbank gekippt. Nachforschungen der Direktion förderten Ernüchterndes zutage. Die Schülerin hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. Ihre Einwandererfamile lebt in einer ungeheizten Wohnung, in der das Mädchen nur kalt duschen konnte. Der Vater hat weitere Kinder und ist arbeitslos. Die Familie lebt von Lebensmittelspenden.
Es handelt sich keineswegs um einen Einzelfall. In Italien wächst die Armut dramatisch – vor allem im Süden und in kinderreichen Familien. Jeder vierte Italiener ist bereits von Armut bedroht, die Kluft zwischen reich und arm vergrössert sich unaufhaltsam. 17 Millionen leben in weitgehender Armut und sind zunehmend von sozialer Isolierung bedroht. Die regionalen Unterschiede muten dramatisch an: während in Südtirol 13 Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze leben, sind es in Sizilien 55 Prozent. Wie gross die Ausgrenzungsgefahr ist, zeigt ein Fall, der letzthin in Moncalieri bei Turin passiert ist.Bei der Zustellung eines Strafmandats stieß ein Carabiniere auf ein siebenjähriges Kind, das bei seiner Mutter und den Großeltern wohnte. Nachforschungen ergaben, dass der Bub für die Gemeinde offiziell gar nicht existierte. Der vorbestrafte Vater hatte sein Versprechen nicht gehalten, ihn anzumelden. Das Kind hat nie eine Schule besucht, wurde nie ärztlich untersucht, hat keine Spielgefährten, kann weder lesen noch schreiben.
Parteien & Neuwahlen
Die Parteien beeindruckt die wachsende Verarmung kaum. Sie sind vollauf mit sich selbst und ihrem peinlichen Dauergezänk beschäftigt. Ihr vordringliches Interesse gilt einmal mehr den Neuwahlen, die kaum vor Juni zu erwarten sind. Das Parlament bleibt zunächst für fast drei Wochen wegen Weihnachtsferien geschlossen. Erst am 24. Jänner beginnt das Verfassungsgericht mit der Prüfung des Wahlrechts Italicum, die sich über mehrere Wochen hinziehen dürfte. Staatspräsident Mattarella hat den streitsüchtigen Parteien bereits die Rute ins Fenster gestellt: das neue Wahlrecht müsse vom Parlament „mit großer Mehrheit“ beschlossen werden. Andernfalls werde es vom Staatschef nicht gegengezeichnet.
Beim Weihnachtsempfang Mattarellas zeigte sich vor allem einer aufgeräumt und bester Laune: Silvio Berlusconi. Der 80-jährige lobte Paolo Gentiloni als Gentleman und bot ihm mehrmals seine Unterstützung an. Der Ex-Premier darf sich bei der erwarteten Rückkehr zum Verhältniswahlrecht auf regen Zuwachs freuen. Schon in den kommenden Tagen könnte aus dem zersplitterten Mitterechts-Lager um Angelino Alfano und Denis Verdini eine lebhafte Rückwanderung in Richtung Forza Italia einsetzen.
Zerissener PD
Desolat wirkt vor allem die Lage des Partito Democratico. Der zerrissenen Partei droht die Spaltung. Längst gebärdet sich der linke Flügel wie eine eigene Partei. Das von der CGIL initiierte Referendum über den Jobs Act könnte ein weiteres Kernstück von Renzis Reformen zunichte machen. Dessen politische Zukunft ist ungewiss, der Partei fehlt eine einigende Führungsfigur von Format. Der ideologisierte Aufsteiger Roberto Speranza nutzt die Gelegenheit, um sich für das Amt des Parteichefs in Stellung zu bringen. Mit Alfano verfügt die neue Regierung derweil über Europas einzigen Außenminister, der des Englischen nicht mächtig ist. Blamabel genug.
Weil sie in der Vergangenheit die Reform der Banken versäumt hat, muss die Regierung nun 8,8 Milliarden in die konkursgefährdete Großbank Monte dei Paschi investieren. Und auch Alitalia steuert erneut auf den Konkurs zu und hofft auf öffentliches Geld.
Ein Land, das den Eindruck vermittelt, als kehre die Vergangenheit zurück. Von Zukunftsvisionen keine Spur.
Lega-Chef Matteo Salvini dankt Wladimir Putin indessen öffentlich für die Bombardierung Syriens, die „Isis-Terroristen daran gehindert hat, bis nach Rom zu gelangen“. Und im Kampf um die sechste Änderung des Wahlrechts droht die Fünfsterne-Bewegung gar mit einem „parlamentarischen Vietnam“.
Grillo fordert Abschiebung
Ungeniert versucht Beppe Grillo auf der Webseite des M5S, seinen populistischen Rivalen Matteo Salvini in der Ausländerpolitik rechts zu überholen … Natürlich interessiert Populisten wie Salvini und Grillo vor allem die Propaganda. Weniger die Tatasache, dass die Rückführung jedes Migranten im Schnitt mindestes 25.000 Euro kostet; dass dafür fünf Tickets notwendig sind (ein Einfachflug für den Migranten und zwei Hin-und Rückflüge für die beiden begleitenden Polizisten). Es interessiert sie nicht, dass bisher erst vier Staaten Rücknahmeabkommen unterzeichnet haben, dass etliche Länder keine Vorbestraften zurücknehmen und als Gegenleistung aufwendige Entwicklungsprogramme fordern, dass viele Konsulate die Rückführungen und die Ausstellung der Papiere verzögern. Aus all diesen Gründen konnten im Jahr 2016 von 180.000 Ankömmlingen nur 4000 konkret ausgewiesen und außer Landes gebracht werden – eine ernüchternde Bilanz.
Die EU lässt Italien mit seinem Flüchtlingsproblem ohnedes allein. Nach der Winterpause wird mit Rückkehr der warmen Jahreszeit der Migrantenstrom übers Mittelmeer wieder kräftig anschwellen – ohne konkrete Perspektiven einer Lösung dieses bedrohlichen Problems, das Italien endgültig zu destabilisieren droht – mit steter Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und weiterer Verrohung des bereits desolaten politischen Klimas.