In der Produktivitätsfalle
Es ist nicht ganz einfach, ein abgewogenes Resümee der „drei Jahre Renzi“ zu ziehen. Es gab Licht und Schatten, aber alles in allem wohl eine Dominanz der Schatten. Nicht nur, weil Renzi als PD-Generalsekretär eine Fehlbesetzung war (und wie man befürchten muss, bleibt) und als Regierungschef beim Referendum gründlich versagte (weshalb er zurücktrat). Sondern weil er sein wohl wichtigstes Versprechen, nämlich Italien aus der wirtschaftlichen Stagnation herauszuführen, nicht einhalten konnte.
Stagnation auf niedrigem Niveau
Die Sprache der Daten ist eindeutig: Die Finanzkrise von 2008 erwischte ganz Europa, aber im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Staaten kam Italien bis heute aus dem Einbruch nicht wieder heraus. Das Bruttoinlandprodukt, das damals um 25 % fiel, stagniert auf niedrigem Niveau, mit Wachstumsraten im „Nullkomma“-Bereich; der Sinkflug der industriellen Produktion setzt sich weiterhin fort; für 2017 prognostiziert die EU Italien die niedrigste Wachstumsrate Europas. Die Arbeitslosenquote hat sich seit 2007 fast verdoppelt (von 6,1 auf gegenwärtig 11,5 %), die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 35,2 %. Die staatliche Verschuldung wächst noch heute und hat inzwischen den Höchststand von 133 % des BIP erreicht, was das Land immer angreifbarer für die Turbulenzen und spekulativen Angriffe der Finanzmärkte macht. Trotzdem wird die Masse der Bevölkerung ärmer, besonders dramatisch im Süden, während die Talente auswandern. Zu allem „Überfluss“ gesellt sich nun auch eine Bankenkrise; und zwar im Unterschied zu anderen Ländern nicht deshalb, weil sich die italienischen Banken mit windigen Finanzgeschäften verspekulierten, sondern weil sie taten, was ihre Aufgabe ist: die Unternehmen mit Krediten zu versorgen. Was dazu führte, dass sie inzwischen auf einer Unmenge „fauler“ Kredite zahlungsunfähiger Klein- und Mittelbetriebe sitzen (was einige dieser Banken dazu brachte, ihre Kapitaldeckung mit nicht weniger „faulen“ Tricks zu verbessern, indem sie z. B. Kleinsparer überredeten, ihr Geld nicht in normalen Anlagenfonds, sondern in hochriskanten nachrangigen Anleihen anzulegen, mit teilweise ruinösen Konsequenzen).
Lavierende Wirtschaftspolitik
Eigentlich waren die Rahmenbedingungen, unter denen die Regierung Renzi ihr Amt antrat, nicht ganz schlecht. In Europa begann wieder ein vorsichtiger wirtschaftlicher Aufschwung, und die europäische Zentralbank garantierte, dass der italienische Schuldendienst, der noch einen Berlusconi zum Rücktritt zwang, nicht den Staatshaushalt erdrosselte. Gleichzeitig saßen aber der Regierung zwei Scharfrichter im Nacken: die Wähler, die Arbeitsplätze und mehr Geld im Portemonnaie haben wollen, und die Brüsseler Kommission, die einen strikten Sparkurs und „grundlegende Strukturreformen“ verlangt. Die Regierung Renzi versuchte zu lavieren. Einerseits mit punktuellen Interventionen, um gut Wetter bei den Wählern zu machen, aber ohne nachhaltige Wirkung für die ökonomische Wiederbelebung. Und andererseits mit ein paar „strukturellen“ Maßnahmen. Zur ersten Gruppe kann man die monatlichen 80 Euro zählen, die an einen Teil der Lohnempfänger oder an Familien mit neugeborenen Kindern verteilt wurden (aber nicht, wie erhofft, den Konsum ankurbelten, sondern überwiegend im Sparstrumpf verschwanden); die Streichung der Immobiliensteuer IMU auf den ersten Wohnsitz (ohne Wachstumswirkung); die Abschaffung der verhassten Steuerbehörde „Equitalia“ (Steuerhinterzieher atmen auf); Förderpakete für Süditalien (die wieder einmal in den Taschen von Lokalpotentaten landeten). Zur zweiten Gruppe gehörte z. B. die Reduzierung der Steuern für Handwerksbetriebe, die ihre Gewinne reinvestieren, oder der (sozial teilweise fragwürdige) „Jobs Act“, der Unternehmen mehr „Flexibilität“ geben soll, u. a. durch die erleichterte Möglichkeit, Arbeiter zu entlassen.
Staatlich verhätschelt
Ernüchternde Bilanz: Beides hat bisher so gut wie nichts gebracht. Die italienische Wirtschaft leidet immer noch an einer Krankheit, gegen die bisher keine Regierung ein Heilmittel fand und die sich in einem Wort zusammenfassen lässt: Produktivitätsrückstand. Vincenzo Boccia, der Präsident der größten Arbeitgeberorganisation Confindustria, schätzte kürzlich, dass in Italien die Arbeitskosten je Produkteinheit um 30 % höher liegen als in Deutschland. Die Ursache ist sicherlich nicht, dass Deutschland niedrigere Löhne zahlt, sondern dass die italienischen Unternehmen in der Vergangenheit weniger in Forschung und Entwicklung und in die Modernisierung ihrer Anlagen investierten. Das gilt auch noch heute.
Die eigentliche Rätselfrage lautet: Warum ist dies so? Hier verbindet sich hier historisch weit Zurückliegendes mit missglückten Kuren von heute. Was den italienischen Kapitalismus seit hundert Jahren vom deutschen Kapitalismus unterscheidet, ist die Sonderrolle des Staates in der italienischen Wirtschaft, der sie als Anteilsinhaber, Auftraggeber und Absatzgarant gegen die Unbilden der Konkurrenz abschirmt. So konnte der Produktivitätsrückstand fast zum Habitus des italienischen Kapitalismus werden. Als in der Nachkriegszeit die DC und später die Sozialistische Partei Craxis die politische Szene beherrschten, wurde dieses Erbe des Faschismus nicht überwunden, sondern durch eine Patronagepolitik fortgesetzt, welche die Unternehmen weiterhin verhätschelte und von Misswirtschaft und Korruption begleitet war. Und schließlich den Staat immer tiefer verschuldete.
Im Teufelskreis
Auch die Rosskur, die Brüssel (und Berlin) Italien verordnete, ist an ihre Grenzen gestoßen. Sie trug vor allem dazu bei, dass sich die produktive Basis der italienischen Volkswirtschaft weiter verringerte. Das Land geriet zeitweise in eine deflationäre Spirale, welche die Investitionsbereitschaft der Unternehmen zusätzlich senkte. Der deutsche Exportüberschuss pumpt menschliche und finanzielle Ressourcen von der Peripherie ins europäische Zentrum, ohne sie an die Länder der Peripherie zurückzuverteilen (s. die deutsche Ablehnung der „Transfer-Union“). Ein Teufelskreis, in dem der italienische Produktivitätsrückstand ein ebenso treibender wie getriebener Faktor ist.Gentiloni, dem die Hände weitgehend gebunden sind, tut, was einem Regierungschef in solcher Situation zu tun bleibt: weitere Senkung der Arbeitskosten für die Unternehmen. Die Confindustria gibt die Richtung vor. Da dem Land (durch den Euro) der Ausweg in die Abwertung versperrt sei, schlägt ihr Präsident Boccia eine „Schocktherapie“ vor, um wieder international konkurrenzfähig zu werden: Unternehmen, die jüngere Arbeitskräfte einstellen, sollen für sie zwei Jahre lang alle Steuern und Sozialbeiträge erlassen werden. Den Staatshaushalt werde das „nur“ mit weiteren 5 Mrd. € belasten. Als Gegenleistung lockt Boccia mit Unternehmensinvestitionen, die nun endlich der Erhöhung der Produktivität dienen. Auf der einen Seite eine harte Forderung an die Politik in Gestalt einer weiteren Senkung der Lohnkosten. Auf der anderen Seite ein „weiches“ Investitionsversprechen. Ein Deal, der vom Steuerzahler finanziert werden soll.