Warum ein Sikh keinen Dolch tragen darf
In Italien wurde ein indischer Sikh zu einer Geldstrafe von 2000 Euro verurteilt, weil er mit einem 18,5 cm langen Krummdolch herumlief und ihn nicht der Polizei ausliefern wollte. Er ging vor Gericht: Das sei ein Kirpan, ihn zu tragen sei für ihn religiöse Pflicht. Andere Repräsentanten der Sikh in Italien ergänzten: Der Kirpan sei keine Waffe, sondern ein religiöses Symbol. Und ein integraler Teil ihres Körpers.
Der Fall kam bis vor das höchste Kassationsgericht, das am 15. Mai das Urteil beider vorhergehenden Instanzen bestätigte. Eigentlich ein banaler Vorgang, wenn das Gericht in seine Urteilsbegründung nicht auch Erwägungen eingefügt hätte, die sich auch auf andere „kulturelle“ Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten anwenden lassen. Hier die entscheidende Passage aus der Urteilsbegründung:
„In einer multiethnischen Gesellschaft verlangt das Zusammenleben von Menschen verschiedener Ethnien die Identifikation einer gemeinsamen Basis, in der sich sowohl die Immigranten als auch die aufnehmende Gesellschaft wiedererkennen müssen. Wenn die Integration auch nicht bedeutet, dass man die ursprüngliche Kultur aufgeben muss – im Sinne von Art. 2 der Verfassung, welcher den sozialen Pluralismus bekräftigt – , bleibt die unüberschreitbare Grenze doch die Beachtung der Menschenrechte und der Rechtskultur des Gastlandes. Für den Immigranten gibt es deshalb die essentielle Pflicht, die eigenen Werte mit denen der westlichen Welt in Einklang zu bringen, in die er sich aufgrund seiner freien Entscheidung eingliedern will, und sich präventiv zu vergewissern, dass die eigenen Verhaltensweisen mit den sie regulierenden Prinzipien kompatibel, d. h. in Bezug auf die sie regulierende Rechtsordnung zulässig sind. Der Entschluss, sich in einer Gesellschaft niederzulassen, von der bekannt ist…, dass sich ihre Werte von denen des Herkunftslandes unterscheiden, verlangt ihre Respektierung, und es nicht zu tolerieren, dass das Festhalten an den eigenen Werten, auch wenn sie im Herkunftsland legal sind, zur bewussten Verletzung jener im Gastland führen. Die multiethnische Gesellschaft ist eine Notwendigkeit, aber sie darf nicht zu einem Archipel konfligierender Kulturen führen…, welcher der Einheitlichkeit des kulturellen und rechtlichen Gefüges unseres Landes entgegensteht, das in der öffentlichen Sicherheit ein zu schützendes Gut sieht und zu diesem Zweck das Tragen von Waffen und möglichen Angriffsinstrumenten verbietet“.
Eine nicht ganz geglückte Abwägung
Positiv an der Urteilsbegründung ist zunächst die Anerkenntnis, dass wir in einer „multiethnischen Gesellschaft“ leben – was nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland schon manchen Horizont überschreitet. Richtig ist zweitens, dass das Urteil mit dem freundlichen, aber bestimmten Hinweis auf das „schützende Gut“ der öffentlichen Sicherheit begründet wird. Anerkennenswert ist drittens, dass sich das Kassationsgericht trotzdem nicht auf die einfache Feststellung beschränkt: widerspricht unserem Waffengesetz, basta. Sondern dass es hier eine Abwägung versucht, v. a. mit dem ebenfalls grundgesetzlich geschützten Recht, die eigene Religion auszuüben.
Die Frage ist allerdings, ob dem Kassationsgericht diese Abwägung gelingt. Denn die Argumentation des Gerichts enthält einen Sprung: Statt nur von der Verfassung und der geltenden Rechtsordnung spricht sie plötzlich von „Werten“, und dann auch noch von den „Werten der westlichen Welt“, mit denen der Immigrant seine eigenen Werte „kompatibel“ machen müsse. Nun ist es sicherlich richtig, dass unser Rechtssystem auf „Werten“ beruht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass beides miteinander austauschbar ist: In der Rechtsordnung steckt zum Beispiel das Bestreben nach Eindeutigkeit und Kohärenz, während die in einer Gesellschaft geltenden „Werte“ keine Konstrukte, sondern in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit Gegenstand der empirischen Erforschung sind. Auf jeden Fall sind sie „weicher“, verschwommener und wandelbarer; bei ihnen bleibt z. B. unbestimmt, wo die „Werte“ enden, welche die Kassationsrichter im Auge haben, und die „Sitten und Gebräuche“ beginnen, deren Befolgung oder Nichtbefolgung jedem, dem Eingeborenen wie dem Zuwanderer, wie der berühmte Gartenzwerg freigestellt werden sollte. Der Unterschied zwischen der Rechtsordnung und den bei uns geltenden „Werten“ ist es gerade, dass die Rechtsordnung indirekt auch den Lebensbereich definiert, den sie ungeregelt und somit der (freien) persönlichen Gestaltung überlässt, in der sich dann auch kulturelle Differenzen ausdrücken können. Während der Verweis auf die unbestimmten „Werte“ des Gastlandes den Anpassungsdruck beliebig groß werden lässt. Aus der Forderung nach Integration wird so die Forderung nach Assimilation. Es ist kein Zufall, dass die italienische Rechte die Begründung mit unverhohlener Begeisterung begrüßte: Mit der Feststellung, dass jeder Immigrant die „essentielle Pflicht“ habe, „die eigenen Werte mit denen der westlichen Welt in Einklang zu bringen“, lässt sich manche xenophobe Hexenjagd begründen.
Anpassung woran?
Ein zusätzlicher Lapsus ist den Richtern unterlaufen, wenn sie ausgerechnet in einem Urteil über das Tragen von Waffen von „Werten der westlichen Welt“ sprechen. Gehören zu dieser Welt nicht auch die USA, wo jeder das Recht zur Knarre in der Hosentasche hat? Und wo übrigens auch die Sikhs ihren Kirpan tragen dürfen – es ihnen ausgerechnet in den USA zu verbieten, wäre in der Tat lächerlich. Der Umweg über die „westlichen Werte“ führt auf rutschiges Gelände. Da wäre die Feststellung einfacher: Unsere italienische (vielleicht auch europäische) Rechtsordnung verbietet es, und die gilt in unserem Land für jedermann.In der Urteilsbegründung steckt noch ein weiterer Pferdefuß. Allzu einseitig wird hier die Anpassungsleistung allein dem Immigranten abverlangt. Wenn anerkannt wird, dass die Gesellschaft „multiethnisch“ ist, dann ist Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle, auch die Einheimischen, in die Pflicht nimmt. Und ihnen bei der Begegnung mit dem Fremden, der aus einer anderen Kultur kommt, immer wieder eine Reflexion eigener „Werte“ abverlangt, die sich auch in Änderungen der Rechtsordnung niederschlagen kann. So hat etwa Holland die Burka in öffentlichen Gebäuden verboten, aber bei der Gelegenheit auch gleich den Motorradhelm. Wer den Immigranten nicht nur die Unterwerfung unter die hier geltenden Normen abverlangt, sondern ihn auch mit der Gesellschaft des Gastlandes versöhnen will, sollte ihm zugleich verdeutlichen, dass seine Integration nicht nur Verzicht, sondern auch die Chance zu verändernder Mitgestaltung bedeutet.
Die europäischen Gesellschaften sind dabei, sich auf die Tatsache einzustellen, dass sie Einwanderungsländer sind (und es wohl auch noch eine Zeitlang bleiben werden). Nicht nur die Diskussion über das Burka-Verbot, sondern auch diese Urteilsbegründung zeigt, wie sehr es dabei noch im juristischen Gebälk ächzt. Einen bitteren Gedanken kann ich nicht unterdrücken: Wie sehr doch unser Verhalten gegenüber den Flüchtlingen, die an die europäischen Türen klopfen, den „westlichen Werten“ Hohn spricht, von denen dieses Gericht so weihevoll spricht. Wenn wir uns doch nur selbst an die „Werte“ hielten, zumindest die grundlegenden, die wir den Immigranten abverlangen …