Renzis „Avanti“, Teil 1 – der Mann des Volkes
Matteo Renzi brachte im Juli in Italien ein Buch auf den Markt, mit dem Titel „Avanti“ („Vorwärts“) und dem Untertitel „Perchè L’Italia non si ferma“ („Warum Italien nicht stehen bleibt“). Er schreibt einleitend, dass er „einfach nur die Reflexionen, Gefühle und Hoffnungen mitteilen (wolle), die auf dem Altar der alltäglichen Kommunikation geopfert werden“. Wenn aber ein Politiker, der seine Laufbahn noch nicht abgeschlossen hat, ein Buch schreibt, kann man sich einer Sache sicher sein: Er will nicht einfach nur mitteilen, was ihm so durch den Kopf geht. Sondern arbeitet an dem Bild, das die Öffentlichkeit von ihm haben soll. Jeder Satz, den er zu Papier bringt, geht auch durch diesen Filter. Für Renzi, der eigentlich lieber twittert, ist ein solches Buch Anspruch und Risiko zugleich. Der Anspruch steckt schon im Titel und in den 235 folgenden Seiten: Da spricht einer, der ein Gesamtkonzept hat. Das Risiko ist, dass er so auch deutlicher erkennbar wird.
Ich nähere mich dem Buch in zwei Teilen: (1) Welches Bild zeichnet er von sich selbst, (2) was ist politisch weiterhin von ihm zu erwarten. Und beginne mit dem Charakterbild.
Der positive Held …
Das Selbstbild des Buches ist der positive Held, der arglos, keck und unverdorben durch die Welt geht, sich von den römischen „Salons“ fernhält und gähnend an den „todlangweiligen“ Brüsseler Sitzungen teilnimmt. Der, wie er sagt, immer auf Angriff spielt und Wagnisse eingeht, die auch misslingen können, weil ihm Stillstand verhasst ist. Ein Mann des Volkes, der daraus seine Kraft zieht. Dem es in der Politik immer um die „humane Dimension“ geht, um konkrete Hilfe für konkrete Menschen. Der sich nach dem Erdbeben im Oktober 2016 mit den Brüsseler „Bürokraten“ anlegt, weil sie ihm gerade in diesem Moment eine weitere Haushaltskürzung von 0,2 % abverlangen. Und denen er daraufhin in einer Pressekonferenz (ohne Europafahne neben sich, um sein Aufbegehren zu zeigen) zugerufen habe, dass „zuerst das Mitleid, der Respekt und die Empathie und erst dann die technischen Rechnungen kommen“. Der nach seinem Rücktritt wieder in seinen Heimatort zurückkehrt und sich dort dem „charakterlichen Test“ unterzieht, eben noch der „mächtigste Mann Italiens“ gewesen und nun plötzlich „wie alle anderen“ zu sein. Und diesen Test natürlich besteht, indem er genau das für „schön und richtig“ erklärt, denn „das Wesen der Politik ist Dienst“. Die Anspielung auf Cincinnatus ist nicht zu übersehen: den Mann, den die alten Römer zum Diktator auf Zeit machten, um Rom vor den Germanen zu retten, aber nach erledigter Aufgabe zu seinem Pflug zurückkehrt. Ein Inbegriff republikanischer Tugend. Wogegen Renzi anschreibt, ist die ihm nachgesagte Neigung, aus Italien eine Präsidialdemokratie und aus der PD eine nur auf ihn ausgerichtete Partei machen zu wollen.Dass er schon wenige Wochen nach seinem Rücktritt beschloss, wieder Generalsekretär der PD zu werden, passt zwar nicht ganz in dieses Bild. Aber es sei ja das „Volk“ gewesen, das ihn zurückrief: „Die Leute halten mich überall an, in der Schule (in die er seine Kinder bringt, HH), auf der Straße, im Supermarkt, vor der Kirche. Über 20.000 eMails, mit dem Tenor: ‚Du hast nicht das Recht, aufzugeben. Inzwischen repräsentierst du auch uns, die Zukunft unserer Kinder‘“. Auch Cincinnatus rief das Volk zweimal.
Renzi ist zu klug, um nur von seinem Ego zu reden. Um sich als Team-Player zu präsentieren, zählt er den „magischen“ Kreis von Vertrauten auf, den wir prosaisch sein „Küchenkabinett“ nennen würden: Graziano Delrio, Maria Elena Boschi, Luca Lotti, ein paar andere. Er stilisiert ihn als eine zur Rettung Italiens verschworene Gemeinschaft und widmet ihm drei Seiten. Immerhin rechtfertigt es, dass er das „Ich“, das in den restlichen 232 Seiten überreichlich zu Wort kommt, gelegentlich in ein unvermitteltes „Wir“ übergeht, ohne dass es sich um den Pluralis majestatis handeln muss.
… unter Zombis
Aber diese Insel des „Wir“ ist abgezirkelt und klein, wie eine Bohrinsel im Meer. Dahinter beginnt der Abgrund. Nicht beim „normalen Menschen auf der Straße“, auf den Renzi genauso wenig kommen lässt wie Martin Schulz auf seinen Würselener Feuerwehrmann. Aber Renzis Urteil wird schneidend kalt, wenn er auf die anderen Akteure der politischen Szene zu sprechen kommt – vor allem auf diejenigen, die eigentlich seine Weggefährten sein müssten. Dass er seinen Widersacher D’Alema nur nebenbei erwähnt, kann ihm niemand verdenken. Aber dann nimmt er sich auch die anderen vor: Mario Monti habe Italien in die Falle des Brüsseler Fiscal Compact geführt. Bersani habe der PD bei der letzten Wahl nur 25 % eingebracht, in Wahrheit eine Niederlage. Pisapia, der heute das „Ulivo“-Bündnis wieder beleben will, habe zur Minipartei Rifondazione Comunista gehört, die damals (vor 20 Jahren, HH) das Bündnis sabotierte.
Vor allem aber ist es Enrico Letta, Renzis Vorgänger im Amt, an dem er kein gutes Haar lässt. Und zwar nicht nur politisch – Letta habe Italien die europäische Banken-Union eingebrockt, seine Regierung mit Berlusconi bedeutete nur Stillstand –, sondern auch persönlich: Letta habe bei seiner Ablösung „geschmollt“ und auf „Viktimismus“ gemacht, wo doch in der Politik „das Land vorgeht“ (schön gesagt. Aber wenn einem die Distanz zur eigenen Person fehlt, dann ist es Renzi: Sein Buch ist voller Selbstmitleid). Dann der zweite Giftpfeil: Es sei üblich, dass bei einer Regierungsübergabe der scheidende Regierungschef einen Arbeitsbericht hinterlasse. Letta habe ihm stattdessen einen Zettel mit ein paar handgeschriebenen Stichpunkten überreicht, „ein Schmierblatt, das aussah wie die Kladde von irgendetwas. Ich habe es bei mir die tausend Tage lang im rechten Schreibtischfach aufbewahrt. Als ich dann den Palazzo Chigi (den Regierungssitz, HH) verließ, nahm ich es nach Hause mit, um immer in Erinnerung zu behalten, wie man die Sachen nicht hinterlassen sollte“. Von Noblesse gegenüber dem Unterlegenen keine Spur. Die Erklärung ist banal: Lettas erzwungener Rücktritt im Februar 2014, der Renzi den Weg ebnete, gilt als „dunkles Kapitel“ der PD-Geschichte. Noch heute gibt es in der PD Leute, die für die nächste Wahl nach einem anderen Spitzenkandidaten als Renzi suchen und dabei auch an Letta denken. Dem muss Renzi schon jetzt einen Riegel vorschieben.
Es gibt Menschen, deren Tonlage automatisch hämisch wird, wenn sie über andere Leute reden (auch wenn es gute Bekannte sind). Sie leben in einer Welt voller Zombis. Eine Zeitlang hämmerte Grillo seinen Anhängern ein, seine politischen Gegner seien „Tote“. Den Reflex hat auch Renzi, wenn es um Kritiker und Rivalen geht.
… und den Großen der Welt
Die Tonlage ändert sich, wenn Renzi von seinen Begegnungen mit den Spitzen der europäischen und globalen Politik berichtet. Mit „Angela, David und Francois“, so die Botschaft, verkehrt er auf Augenhöhe; gegenüber Angela sei er der einzige, der ihr offen zu widersprechen wagt. Das Staatsdinner, zu dem ihn Obama Mitte Oktober 2016 in die USA einlud, beschreibt er mit epischer Ausführlichkeit. Leider war die politische Hoffnung auf eine damit beginnende „bevorzugte Partnerschaft“ auf Sand gebaut. Anfang November wurde nicht Hillary Clinton, sondern Trump zum Präsidenten gewählt; Anfang Dezember verlor Renzi Referendum und Amt. Hätte, hätte …
Eine Sonderrolle spielt im Buch Berlusconi. Über das Ergebnis von dessen 20-jähriger Vorherrschaft verliert Renzi kein Wort. Er geht nur auf das Zerwürfnis ein, zu dem es Anfang 2015 kam. Dann die unvermittelte Feststellung: „Ich kann mir nicht helfen, aber Berlusconi wird mir nie unsympathisch sein“. Der Gedanke, dass hier schon einer an der nächsten Koalition bastelt, ist naheliegend.
PS: Auf die politische Botschaft von Renzis Buch wird der demnächst folgende Teil II eingehen.