Qualifizierte Zuwanderer streben nach Norden
Die Flüchtlinge, hauptsächlich aus arabischen und afrikanischen Ländern, haben zwar – nach der Schließung der Balkanroute – als erstes Ziel die südlichen Mittelmeerländer, vor allem Italien. Aber nicht, um dort zu bleiben, sondern als Tor zu Europa, genauer gesagt: zu Nordeuropa. Weil sich auch bei ihnen herumgesprochen hat, dass dort die Chancen höher sind, eine Beschäftigung, eine Wohnung und Integrationsangebote zu finden. Das gilt ganz besonders für diejenigen, die über eine bessere Qualifikation und höhere Abschlüsse verfügen.
Das bestätigt eine Studie der italienischen Stiftung „Leone Moressa“, die Anfang Januar vorgestellt wurde. Der Forschungsschwerpunkt der Moressa-Stiftung sind die Migrations- und Fluchtbewegungen, insbesondere ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Die jetzt vorgestellte Studie, die 14 europäische Länder einbezieht, untersucht vergleichend verschiedene Indikatoren, die Rückschlüsse auf die Integrationschancen und „Attraktivität“ der einzelnen Länder ermöglichen. Unter anderem: 1) Beschäftigungsanteil von Zuwanderern; 2) Zuwanderer mit hohem Bildungsniveau; 3) Armutsrisiko; 4) Anteil von Zuwanderern unter der Armutsgrenze.
Norwegen an der Spitze
Aus der Kombination der Ergebnisse in den verschiedenen Bereichen hat die Stiftung ein „Länderranking“ erstellt. Die Liste wird von Norwegen angeführt, gefolgt von Irland und Dänemark. Deutschland befindet sich im Mittelfeld, Italien an vorletzter Stelle (nach Spanien und vor Griechenland).
Die „attraktiven“ Aufnahmeländer bieten nicht nur quantitativ mehr Beschäftigungschancen, sondern gerade auch für qualifizierte Zuwanderer bessere Perspektiven. In den „Spitzenländern“ (Norwegen, Irland, Dänemark und Großbritannien) liegt deren Anteil bei ca. 40% , in Italien bei nur 10,3%. Auch Deutschland schneidet mit 20,8% nicht besonders gut ab, trotz anhaltender guter Konjunktur und obwohl die Wirtschaft unentwegt über den bedrohlichen Fachkräftemangel jammert. Dennoch ist die Bereitschaft von Unternehmen gering, auch selbst etwas zu investieren, um das Fachpotential von Neuzuwanderern nutzen zu können. Notwendige berufsbegleitende Weiterbildungs- und Anpassungsmaßnahmen sowie fachspezifische Sprachangebote, die sich nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Unternehmen mittel- bis langfristig auszahlen würden, sind Mangelware bzw. beschränken sich auf vereinzelte Projekte.
Zusammenwirken mehrerer Faktoren
Als Grund, warum Zuwanderer und Flüchtlinge mit höherer Qualifikation bestimmte Länder bevorzugen, greift also allein die Wirtschaftskraft eines Landes zu kurz. Schaut man sich die Daten der Moressa-Untersuchung an, spielen auch andere Faktoren dabei eine Rolle. Dazu zählen neben den Zugangsmöglichkeiten zu qualifikationsadäquaten Jobs auch die Chance, eine gute und dennoch preisgünstige Wohnung zu bekommen, und die (strengeren oder liberaleren) Bestimmungen zur Einbürgerung. Bei allen diesen Faktoren schneidet Deutschland deutlich schlechter ab als die skandinavischen Länder. Dies gilt erst recht für Italien, wo die fragilere Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit die Motivation, sich dort niederzulassen, zusätzlich einschränken.
In den skandinavischen Ländern scheint sich auszuzahlen, dass sie auf eine jahrzehntelange Integrationspolitik zurückblicken können. Als in Deutschland noch Kohls Mantra „Wir sind kein Einwanderungsland“ die politische Richtschnur im Migrationsbereich war, gab es in Schweden und Norwegen schon lange verpflichtende und kostenlose Sprach- und Integrationskurse. In Deutschland war man erst 2005 so weit. Und in Italien gibt es erst seit vorigem Jahr den Ansatz eines „Nationalen Integrationsplans“, der sich allerdings absurderweise nur auf die Zielgruppe der Flüchtlinge bezieht, die den geringeren Teil der Zuwanderer ausmachen. Vermutlich waren Kostengründe dafür entscheidend, dennoch geht eine solche Begrenzung völlig am Bedarf vorbei.
Nicht zuletzt spiegelt das „Länderranking“ – indirekt – auch das gesellschaftliche Klima gegenüber den Migranten und Flüchtlingen wieder. Diese wissen genau, in welchen Ländern Fremdenhass, Rassismus und Intoleranz vorherrschen. Kaum ein Flüchtling möchte nach Ungarn oder Polen geschickt werden. Aber auch Ostdeutschland und Italien sind nicht gerade beliebt. Vor allem diejenigen, die über viel Selbstinitiative, Bildungsressourcen und Kontakte verfügen, lassen sich nicht aufhalten und wandern weiter.
Ein hoher Preis
Das ist der Preis, den Länder bezahlen, die nicht fähig oder bereit sind, sich der Realität und den komplexen Herausforderungen der globalen Migrationsprozesse zu stellen. Man kann diese durch radikale Abschottung zwar verringern, aber nicht stoppen. Der sicherlich richtige Ansatz, in den Herkunftsländern die Fluchtursachen zu reduzieren, genügt nicht. Denn 1) setzt er Anstrengungen der reicheren Ländern voraus, zu denen sie bisher nicht einmal annähernd bereit sind, und 2) können diese Anstrengungen nur langfristig wirken. Zu denken, man könne „in der Zwischenzeit“ die Zuwanderung lediglich „notverwalten“, ist töricht – und für die Betroffenen wie für die Aufnahmeländer kontraproduktiv.
In Deutschland ist inzwischen bei einem Teil der politisch Verantwortlichen und auch der Gesellschaft diese Erkenntnis zumindest in Ansätzen vorhanden (obwohl auch hier unter dem Druck der Rechtsextremen eine Rückwärtsbewegung stattfindet). In Italien ist man davon meilenweit entfernt. Migration und Flucht werden dort beinah ausschließlich unter den Aspekten „Sicherheit, Kriminalität, Bedrohung, Abschottung“ thematisiert. Das gilt besonders für die Rechtspopulisten, die mit Blick auf die Wahlen in März jetzt voll auf die xenophobe Karte setzen. So erzählt Berlusconi im Fernsehen Horrormärchen über „476.000 Immigranten, vor allem aus Afrika“, die allesamt für einen angeblich monströsen Anstieg der Kriminalität verantwortlich seien (tatsächlich ist diese 2017 um 9,2% gesunken und unter Migranten niedriger als unter Italienern); Di Maio (5 Sterne) hat erst die NGO’s als „Mittelmeer-Taxis“ diffamiert und jetzt das Trump-und-Lega-Motto „Italiener zuerst!“ („Amerika first!“) übernommen. Die Lega predigt offenen Rassenwahn. Eine Kostprobe: „Sie (die Migranten, Anm. MH) sind entschlossen, unser Territorium zu besetzen, wir müssen rebellieren, es gibt nicht Platz für alle, wir müssen entscheiden, ob unsere Ethnie, unsere weiße Rasse weiter existieren oder ausgelöscht werden soll!“. O-Ton Attilio Fontana, Legamann und gemeinsamer (!) Kandidat der Rechten für das Amt des Regionspräsidenten in der Lombardei. Der danach meinte: „Das war nur ein Lapsus! Ich wollte sagen, dass bei der Aufnahme von Migranten unsere Geschichte, unsere Gesellschaft respektiert werden soll“. Unsere weiße Rasse : ein Lapsus.
Leider stellt sich auch „Mittelinks bis Links“ den Fragen der Zuwanderung nicht angemessen, wenn auch ohne die fremdenfeindlichen Töne des rechten Lagers. Sie werden entweder vorwiegend auf den Sicherheitsaspekt verengt (vor allem von Innenminister Minniti, Frontmann der PD für diesen Bereich). Oder man weicht ihnen einfach aus, abgesehen von allgemeinpolitischen Appellen gegen den Fremdenhass, wie der neue linke Zusammenschluss „Liberi e uguali“.
Eine politische und gesellschaftliche Debatte über Möglichkeiten und Probleme einer nachhaltigen Integrationspolitik steht in Italien nicht auf der Agenda. Es stehen ja Neuwahlen bevor. Das Aussetzen der überfälligen jus soli-Reform ist dafür nur ein trauriges Beispiel. So werden – in einem zunehmend vergifteten gesellschaftlichen Klima – Chancen verspielt.