Geldkeule gegen Gewissensfreiheit
Zur repräsentativen Demokratie des Westens gehören Parteien, die sich in regelmäßigen Abständen zur Wahl stellen, und Abgeordnete, die sich als ihre gewählten Vertreter in den Parlamenten versammeln. Und die trotzdem keinem imperativen Mandat unterliegen, weder von ihrer Partei noch von den Wählern, worauf die jeweiligen Verfassungsväter und –Mütter großen Wert legten. Art. 38 des deutschen Grundgesetzes erklärt, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages seien „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Art. 67 der italienischen Verfassung sagt: „Jedes Parlamentsmitglied repräsentiert die Nation und erfüllt seine Aufgaben ohne imperatives Mandat“ („vincolo di mandato“). Da die Parteien fast immer versuchen müssen, ihre Abgeordneten einer Fraktionsdisziplin zu unterwerfen, spricht man von einem „Spannungsverhältnis“ zwischen Parteibindung und freiem Abgeordnetenmandat. Trotzdem halten die Verfassungsrechtler am Grundsatz der Gewissensfreiheit fest.
Burkes Begründung des freien Abgeordnetenmandats
Warum? Die klassische Antwort lieferte der britische Staatsphilosoph Edmund Burke 1774 in einer „Rede an die Wähler von Bristol“: „Euer Vertreter schuldet euch nicht nur seine Tatkraft, sondern auch seine Urteilskraft, und er verrät euch statt euch zu dienen, wenn er seine Urteilskraft eurer Meinung opfert.“ Was Burke dann gleich zum Argument gegen jede Bindung an eine andere Instanz als das Gewissen verallgemeinerte: „Maßgebliche Instruktionen, feste Mandate, denen das Parlamentsmitglied blind gehorchen muss, obwohl es der klaren Überzeugung seiner Urteilskraft und seines Gewissens widerspricht, so etwas ist den Gesetzen unseres Landes völlig unbekannt“.
Da unsere Verfassungsgerichte auch die Existenz von Parteien anerkennen, hat sich in der parlamentarischen Praxis ein Kompromiss durchgesetzt: Die Parteien können Abgeordnete aus ihren Fraktionen ausschließen, wenn sie gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen. Aber weitergehende Sanktionen dürfen sie nicht ergreifen, ihnen z. B. das Mandat aberkennen. Was die Parteien nicht daran hindert, dies auf Umwegen immer wieder zu versuchen. So etwa in Deutschland, als die chronisch abwanderungsanfällige NPD 1967 vor einer niedersächsischen Landtagswahl ihre Kandidaten einen „Sicherungswechsel“ von 30.000 DM unterschreiben ließ, der fällig werden sollte, wenn eines ihrer Mandatsträger nach der Wahl die Fraktion verlässt. Als ein NPD-Abgeordneter namens Helmut Hass dann doch samt Mandat zur CDU wechselte, wollte die NPD die 30.000 DM zwangsvollstrecken (was das Braunschweiger Landgericht als „sittenwidrig“ verwarf).
Die eigene Überzeugung kostet 100.000 €
Da in Italien Wahlen bevorstehen, versucht jetzt auch die Führung der 5-Sterne-Bewegung, ihre Abgeordneten rechtzeitig an die Leine zu legen. Ihre Kandidaten müssen „Ethikregeln“ unterschreiben, die sie unter anderem verpflichten, jederzeit einer von der 5-Sterne-Bewegung geführten Regierung das Vertrauen auszusprechen – sonst droht nicht nur der Ausschluss, sondern auch „Sanktionen“. Und die haben es in sich: Wer aus der Fraktion ausscheidet, sei es aus eigenem Entschluss (wegen „politischem Dissens“), sei es weil er oder sie ausgeschlossen wird, zahlt eine Geldbuße von 100.000 €. Es ist das Gleiche, was 1967 die deutsche NPD versuchte: die von der Verfassung geschützte Gewissensfreiheit der Abgeordneten per „privater“ Geldstrafe auszuhebeln. Nur dass es hier kein Sicherungswechsel ist, den die Kandidaten unterschreiben sollen, sondern ein „ethischer“ Kodex, der mit der Geldkeule droht. Und die nicht 30.000 DM, sondern 100.000 € schwer ist.Ist der Kodex „ethisch“?
Natürlich gibt es für diesen Kodex Gründe. Grillos „Bewegung“ hat sich in den letzten Jahren gewandelt: vom grünen Aufbruch zum Machterhalt durch Marketing, von der Innen- zur Außenleitung (von oben). Bei vielen Abgeordneten erforderte das eine Umerziehung, die nicht selten in Protest, Desillusionierung und Resignation endete. In den letzten fünf Jahren verließen 40 Abgeordnete (19 im Senat, 21 im Parlament) die 5SB-Fraktion. Da Grillo gegenüber „Feinden“ (und „Renegaten“) nur die persönliche Herabsetzung kennt, erklärte er dies mit Habgier (sie wollten nichts von ihren Diäten abgeben). Dass der neue „Ethik-Kodex“ letztlich der gleichen Logik folgt und die Abgeordneten dem Verdacht aussetzt, nur aus Angst vor der Geldbuße zu kuschen, wird billigend in Kauf genommen. Nicht auf Überzeugungen, nur auf die Wirkung kommt es hier an.
Dass die 5-Sterne-Bewegung diese Methode inzwischen flächendeckend gegenüber ihren Mandatsträgern anwendet – vom Europaparlament bis zum römischen Stadtrat –, zeigt die Skepsis, mit der sie auch auf die eigenen Leute schaut. Gegen den Geist und Buchstaben der Verfassung richtet es sich auf jeden Fall.
Grillos „direkte Demokratie“
Der Grund für den im Kodex steckenden Verfassungsbruch sind nicht nur die 40 Abgeordneten, die während der vergangenen Legislaturperiode „abtrünnig“ wurden. Da die 5SB von Anfang an gegen die repräsentative Demokratie war, wollte sie ihre Abgeordneten immer an ein imperatives Mandat binden (das ihnen nur vordergründig die Netz-Gemeinde, letztlich aber die Führung erteilt). Das „System“ soll ja mit all seinen Vermittlungen bekämpft werden.
Dass die repräsentative Demokratie eher einer ewigen Baustelle als einem fertigen Gebäude gleicht, ist bekannt. Einerseits wurde sie zunehmend verrechtlicht, andererseits aber auch durch plebiszitäre Elemente korrigiert (in Italien können Volksentscheide verabschiedete Gesetze annullieren). Der Traum von einer „direkteren“ Form der Demokratie ist mindestens 150 Jahre alt. Fast alle (faschistischen und kommunistischen) „Bewegungen“ des 20. Jahrhunderts hatten eine solche Phase. Ihre Geschichte zeigte aber auch die Gefahr, die mit dem Abbau der Vermittlungen der „repräsentativen Demokratie“ stets verbunden ist: den Umschlag des Versprechens erhöhter Partizipation in eine noch viel autoritärere „Ordnung“. Die 5-Sterne-Bewegung scheint diesen Umschlag – als Farce – wiederholen zu wollen.
Wenn „direkte Demokratie“ bedeutet, dass die Parteien – oder „Bewegungen“ – ihre politischen Entscheidungen nur noch damit begründen müssen, dass sie dem aktuellen Wind der Mehrheitsmeinung folgen, wird jede Wahl zum Waten im Sumpf. Wenn ich eine Partei wähle, möchte ich wissen, wofür sie steht. Dafür muss ich zumindest hoffen können (man wird bescheiden), dass ihre Vertreter ihre eigene „Urteilskraft“ (s. o.) haben, samt Überzeugungen, zu denen sie im Zweifelsfall stehen. Das setzt allerdings voraus, dass ihnen das Recht auf eigene Überzeugung und Urteilskraft nicht systematisch ausgetrieben oder abgekauft wird. Sicher, in ihrer „Gewissensfreiheit“ steckt immer ein Risiko. Sie können sie auch missbrauchen. Aber ohne sie geht‘s nicht.