Emma Bonino: Ursachen des Hasses
Im Folgenden übersetzen wir einen offenen Brief, den Emma Bonino, die Vorsitzende der Radikalen Partei und Spitzenkandidatin des Wahlbündnisses „Mehr Europa“, an die Tageszeitung „La Repubblica“ schrieb. In ihm setzt sich Bonino kritisch mit der gängigen These auseinander, Fremdenfeindlichkeit sei eine notwendige Folge von Migrationsbewegungen – womit letztlich die Zuwanderer selbst für den ihnen entgegengebrachten Hass verantwortlich gemacht werden. Der zu Anfang des Briefes erwähnte Traini ist der Lega-Mann, der vor einigen Wochen in Macerata rassistisch motiviert auf sechs farbige Immigranten schoss und sie zum Teil schwer verletzte (wir berichteten). Das Ende des Briefs spielt auf den Widerstand an, den es plötzlich in einem Teil der italienischen Öffentlichkeit gegen das obligatorische Impfen von Kleinkindern gibt und der von den populistischen Parteien mit den entsprechenden Horrormeldungen („Impfen macht autistisch“) unterstützt wird. Emma Bonino hat in ihrem Brief vor allem die Immigranten im Auge, die aus Afrika nach Italien kommen – sonst wäre ihre Bemerkung, dass die „Immigration wirtschaftlich und demographisch begründet ist, nicht ‚politisch’“, unverständlich.
Lieber Herr Chefredakteur,
der „Stopp“ – nennen wir es so – des Ausbootens (von Flüchtlingen an der italienischen Küste, d. Red.) hat nicht Traini gestoppt. Italien blieb bis heute, auch dank seiner Sicherheitsdienste, von Anschlägen „einsamer Wölfe“ des Jihads verschont. Aber es erlebte das erste xenophobe Terrorattentat, bei dem ein Massaker nur deswegen unterblieb, dass der Schütze nicht genau genug zielte. Der Terrorist kommt nicht aus einem islamistischen Verein, sondern aus einer im Parlament vertretenen Partei (der Lega, d. Red.).
Ich weise die These zurück, dass die Migration die Ursache der Xenophobie sei. Das Beharren auf diesem analytischen Fehler führt zur Rechtfertigung des Vorurteils selbst. „Es gibt zu viele Ausländer, die Leute ertragen es nicht mehr…“ behaupten einige. Das ist so, als wenn man behaupten würde, der Antisemitismus sei ein Produkt des Judentums. Als ob die Opfer an der Wut der Henker Schuld seien. Historisch ist das Gegenteil richtig: Wie der Ausländer ist der Jude Projektion eines Hasses, der nicht nur psychologisch, sondern auch kulturell und ideologisch ist. Die Xenophobie ist ein Produkt des Nationalismus und nicht der Zuwanderung. Er bietet der Volkswut Sündenböcke an. Der ethnische Nationalismus von Salvini – antieuropäisch und fremdenfeindlich – ist eine mächtige Ideologie. Sie ist im gestrigen und heutigen Europa nicht neu, sie reitet auf dem Unmut und heizt ihn zugleich an, sie ist kein Produkt dieses Unmuts.
Das ist empirisch belegt. Die Xenophobie ist dort am stärksten, wo es weniger – und nicht mehr – Ausländer gibt. Das gilt nicht nur für Italien. Denken wir an Ostdeutschland, wo die AfD besonders stark ist. In Regionen, die nicht nur wirtschaftlich ärmer, sondern auch durch die jahrzehntelange sowjetische Herrschaft kulturell verwüstet sind. Anders als in Berlin und den multikulturellen Metropolen der alten Bundesrepublik. Wo es mehr Ausländer gibt, ist die Xenophobie geringer! Das gilt für Italien, für alle europäischen Länder und auch für die USA. In dem vom islamistischen Terror gepeinigten Paris, wo Menschen aus aller Herren Ländern – Italiener eingeschlossen – leben, bekam Le Pen nur Krümel und siegte Macron haushoch.
Und schauen wir noch auf das, was in Osteuropa geschieht, zum Beispiel auf das Aufflammen des Antisemitismus in Ungarn und Polen – wobei es im letzten Fall eine regelrechte Verdrängung der Mitverantwortung Polens für die Judenverfolgung gibt. Woher kommt dieser Antisemitismus? Gibt es in Warschau oder Krakau eine Judeninvasion? Offensichtlich nicht!
Das Gefühl der Unsicherheit hängt auch davon ab, wie sich die führenden Klassen zu diesem Gefühl verhalten, wie sie ihm begegnen und wie sich sich ihm entgegenstellen. Ich möchte gerne, dass man sich bei der Zuwanderung ähnlich verhält wie bei den Impfungen. Als hier die „gefühlte“ öffentliche Meinung immer irrationaler reagierte, ging man dazu über, sehr eindringlich über die hinter diesem „Gefühl“ stehenden Falschauffassungen aufzuklären. Wenn man die öffentliche Meinung dem Wahnsinn überlässt, ist alles verloren. Warum tut man nicht dasselbe bei der Migration? Im Jahr 2016 gab es in Italien die höchsten Flüchtlingszahlen und die wenigsten Morde, Frauenmorde eingeschlossen. Das ist es, was der Innenminister in Macerata denjenigen hätte sagen müssen, welche die Flüchtlingszahlen mit der Sicherheit in Verbindung bringen. Diese schlichte Wahrheit. So, wie die Regierung bei den Impfungen die Wahrheit sagt und klarstellt, dass diejenigen, die Autismus auf Impfungen zurückführen, Lügner und Betrüger sind.
Die Immigration ist demographisch und wirtschaftlich begründet, nicht „politisch“. Es gibt keine „obskure Macht“, die an dem arbeitet, was Fremdenhasser „Substitution der Völker“ nennen. 1950 hatte Afrika weniger als die Hälfte der Einwohner Europas. Im Jahr 2050 wird diese Zahl, wie wir wissen, dreifach so hoch sein. Wir wissen genau, dass die europäische Demographie sich verändern wird und in den nächsten Jahren Millionen Europäer eine afrikanische Herkunft haben werden.
Senden wir die grotesken Rufe „Die wollen alle nur zu uns!“ an die Absender zurück und antworten wir mit konkreten Projekten, die in einem einheitlichen politischen Konzept die Sicherheit, die menschliche Mobilität und die Integration vereinigen.
Die Herausforderung besteht darin , die Kontinuität unseres gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Modells zu gewährleisten. Eine Herausforderung, die allerdings – so schwer es auch ist – nicht „gegen“ die Zuwanderer, die in unserem Land leben, gewonnen werden kann, sondern nur „mit“ ihnen.