Salvinis Deal mit der Waffenlobby
Die reaktionäre Welle, die über Europa hinwegschwappt, lebt nicht nur vom Thema Flüchtlinge. Ein Nachbarthema (von dem manche behaupten, es sei die Hauptursache) ist die innere Sicherheit. Wobei es weniger um die reale als die gefühlte Sicherheit geht – die Statistiken sprechen dafür, dass sich hier in den letzten Jahren in Italien kaum etwas zum Schlechteren gewendet hat. Was jedoch nicht bedeutet, dass sich die Dramatisierung für die Rechte nicht auszahlt. Die Wahlforscher sind sich einig, dass es die Kombination beider Themen ist, die der italienischen Rechten Anfang März den Wahlsieg brachte. Zwar schien schon der letzte Innenminister der Gentiloni-Regierung, Minniti, mit seinen Libyen-Vereinbarungen einigen Druck aus dem Kessel genommen zu haben – „es kommen doch weniger“ –, aber die Lega übertrumpft ihn. Einerseits mit dem zynischen Poker um die Anlandung der aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlinge. Andererseits mit dem Versuch, das Recht auf Notwehr zu liberalisieren. Worin die Unterstellung steckt, dies sei gegenwärtig Italiens Hauptproblem. Dass Salvini mit viel Getöse versucht, hier eine Neuregelung zu erreichen, hat den Sinn, ein Siegerthema in der Diskussion zu halten.
‚Ohne Wenn und Aber‘
„Es gibt ein sakrosanktes Recht, mich in meiner eigenen Wohnung zu verteidigen. Wenn ich dort nachts um 3 auf eine bewaffnete und maskierte Person treffe, muss ich nicht erst herausfinden, ob seine Waffe echt ist oder nicht. Dann habe das Recht, mich zu verteidigen, ohne Wenn und Aber.“
Das ist Salvini original, und er meint mit dem Recht zur Selbstverteidigung auch das Recht zu töten. Der Knackpunkt ist das „ohne Wenn und Aber“, das er an dieser Stelle immer wieder hinzufügt („senza se e senza ma“), was bedeutet: ohne hinterher auch noch einen lästigen Prozess über mich ergehen lassen zu müssen, in dem ich nachweisen muss, dabei auch alle geltenden Einschränkungen des Notwehrrechts beachtet zu haben. Nun hat die Lega einen Vorschlag zur Neufassung des Notwehrparagrafen auf den Tisch gelegt, mit dem Ziel, „das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Verteidigung und Angriff zu überwinden“.
Auch bei Notwehr ist nicht alles erlaubt
Ich bin kein Jurist, habe aber den Eindruck, dass sich das europäische Rechtssystem viel Mühe mit dem Notwehrrecht gegeben hat. Der Gegenstand ist schwierig: Da es Handlungen erlaubt, die im Normalfall ungesetzlich sind und bis zum Töten gehen können, muss es umso sorgfältiger sagen, wann solche Ausnahmesituationen eintreten und was in ihnen erlaubt und was nicht erlaubt ist. Es ist eine Gratwanderung. Einerseits kann man dem Angegriffenen, dessen Leib, Leben oder Eigentum durch einen Angreifer bedroht wird, bei der Verteidigung keine lange Abwägung zwischen dem zu verteidigenden eigenen Gut und dem des Angreifers abverlangen. Andererseits soll er doch nicht zu jedem Mittel greifen dürfen, sondern sich unter den Mitteln, die Wirksamkeit versprechen, für das „mildeste“ entscheiden. Auch wenn – was zu berücksichtigen ist – sich der Angegriffene in einer Extremsituation des Schreckens, der Angst und der Verwirrung befindet. Alles in allem soll es zwischen der Handlung des Angreifers und der Reaktion des Opfers kein „extremes Missverhältnis“ geben, was z. B. bei einer Tötung als Reaktion auf einen kleinen Diebstahl der Fall wäre. Also gilt auch hier, trotz der Ausnahmesituation, immer noch das Gebot der Verhältnismäßigkeit, auch wenn sich hier die Maßstäbe zu Gunsten des Opfers und zu Lasten des Angreifers verschieben (im Vergleich etwa zu dem Staat, der bei hoheitlichem Handeln eine Güterabwägung vorzunehmen hat).
Dreimal darf man raten, was Salvini mit dem „Wenn und Aber“ meint, das er beim Notwehrrecht aus der Welt schaffen will. Schon in den letzten Jahren war es eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, Menschen zu besuchen, die sich mit der Schusswaffe gegen Einbrechern zur Wehr gesetzt hatten, und dazu jedes Mal Vertreter der Medien einzuladen. So besuchte er 2014 den kleinen Unternehmer Antonio Monella, der gerade letztinstanzlich wegen Totschlags zu 6 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil er von zwei Balkons aus das Feuer gegen drei Albaner eröffnete, die seinen auf der Straße geparkten SUV stehlen wollten. Einen von ihnen, der 19 Jahre alt war, traf er tödlich. Die Lega machte aus Monella einen Volkshelden und setzte eine Bewegung in Gang, nicht ohne Erfolg: Staatspräsident Mattarella begnadigte ihn vorzeitig.
Salvinis Deal
Seitdem führt Salvini einen Kampf für die Ausweitung des Notwehrrechts. Mit interessanten Verbündeten. Am 16. Juli enthüllte die „Repubblica“, dass Salvini schon im Februar, also mitten im Wahlkampf, mit der italienischen Waffenlobby „Comitato Direttiva 477“ ein Abkommen schloss. Diese Lobby ist nicht irgendwer. Sie repräsentiert die italienische Waffenindustrie (2500 Unternehmen, 92.000 Beschäftigte, knapp ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts), den Waffenhandel und und 1,3 Millionen (legale) Waffenbesitzer. Zu ihren Sponsoren gehört die italienische Filiale der Brownells Inc., die in Iowa ihren Hauptsitz hat und dessen Geschäftsführer 2017 zum Präsidenten der mächtigen National Rifle Association wurde, die in den USA den Aufstieg von Trump unterstützte. Der Name „Direttiva 477“ signalisiert eines ihrer Ziele: Veränderungen zu bekämpfen, mit denen die EU ihre Richtlinie 477 von 1991 über die Kontrolle des Erwerbs und Besitzes von Waffen etwas einschränkender gestalten will. Direktiven dieser Art muss jedes EU-Land mit einem eigenen Gesetz übernehmen, was auch in Italien ansteht. Das Abkommen enthielt Salvinis Selbstverpflichtung, das „Comitato Direttiva 477“ darüber nicht nur zu informieren, sondern auch in die Anhörungsverfahren einzubeziehen (dass er zur nächsten Regierung gehören würde, wurde unterstellt).Ob das „Comitato Direttiva 477“ bei der Wahl die Lega auch finanziell gesponsert hat, ist nicht bekannt. Aber sie gab zur Wahl in ihrem Hausorgan eine Liste der waffenfreundlichsten Parteien und Politiker heraus. Und da stand Salvinis Lega ganz oben. Bei 1,3 Millionen direkten oder indirekten Mitgliedern kein Pappenstiel.
Noch Vorbehalte
Aber noch ist Salvini nicht am Ziel. Denn plötzlich zeigt der Koalitionspartner 5SB, was er bisher gegenüber dem dominierenden Salvini vermissen ließ: eine Spur eigenen Rückgrats. Dass die 5SB zur anstehenden parlamentarischen Beratung des neuen Notwehrgesetzes im Unterschied zur Lega keinen eigenen Entwurf vorlegte, ließ Schlimmes erwarten. Aber nun erklärten Premierminister Conte und der neue Justizminister Bonafede, dass Italien nicht der Wilde Westen sei. Conte sagte, dass „diese Regierung nicht beabsichtigt, die Privatrache und den Waffengebrauch anzuheizen“. Es gebe zwar „Personen, die (nach ihrer Notwehr) einen Leidensweg von drei Instanzen zu erdulden hatten“. Aber immerhin handle es sich hier „auch um Menschen, die getötet wurden“. Bonafede fügte hinzu, dass Korrekturen am bestehenden Gesetz zwar möglich seien, aber nur im Sinne von mehr Klarheit, nicht um „jedem zur Selbstverteidigung eine Pistole in die Hand zu geben, das ist abwegig“.
Ein erster kleiner Riss? Schön wär’s. Aber noch sind beide Parteien damit beschäftigt, unter sich den Kuchen zu verteilen, der ihnen durch den Wahlsieg zugefallen sind, vom staatlichen Fernsehen bis zur Eisenbahn. Das schweißt vorerst zusammen. Die Meldungen, dass Migranten angegriffen werden, auch mit Schusswaffen, häufen sich. Vor allem wird Jagd auf Afrikaner und auf Rom-Kinder gemacht zu werden. Das Klima dafür scheint günstig zu sein.