Der Hafen des Todes
Vorbemerkung der Redaktion: Dass in den libyschen Flüchtlingslagern die schrecklichsten Zustände herrschen, ist hinreichend dokumentiert und denjenigen, die es hören wollen, auch bekannt. Trotzdem wird sowohl in Italien als auch in Deutschland zur Beruhigung des eigenen Gewissens immer noch so getan, als ob da eigentlich „nichts wäre“ – der deutschen Öffentlichkeit wird signalisiert, dass sich weiteres Nachdenken erübrige, weil ja immerhin „weniger kommen“, und der italienische Innenminister Salvini wagt sogar die Behauptung, dass Libyen „sicher“ sei. Umso bedeutsamer ist es, dass gerade auch Ärzte, die von Berufs wegen mit Flüchtlingen zu tun haben und nicht im Verdacht stehen, dies nur aus übertriebener Menschenfreundlichkeit zu tun, Alarm schlagen. Die zunehmende Eindeutigkeit, mit der hier auch die Katholische Kirche Stellung bezieht, scheint sie nicht zuletzt den Informationen dieser Ärzte zu verdanken. Einer von ihnen ist Dr. Pietro Bartolo, der Arzt von Lampedusa, der auf der Insel eine Krankenstation betreibt und zu dessen Klientel die dort ankommenden Flüchtlinge gehören. Dass er eigentlich kein Schwarzmaler ist, zeigt seine Bemerkung, dass die italienische Öffentlichkeit eigentlich nur „schlecht informiert“ sei. Deshalb hat er begonnen, die Fotos und Videos, welche die Flüchtlinge aus den libyschen Lagern mitbringen, dem Erzbischof von Agrigent Kardinal Francesco Montenegro zu übergeben, der sie seinerseits an den Vatikan weiter leitet.
Das folgende (fast ungekürzte) Interview mit Bartolo stammt aus der „Repubblica“ vom 29. August:
Doktor, wie sind Sie an diese Bilder gekommen?
Mir gaben sie bei verschiedenen Gelegenheiten die Migranten, die ich behandelt habe, wenn ich verstehen wollte, woher ihre schrecklichen Verletzungen kommen.
Was haben sie gesehen?
Verbrennungen, Häutungen, Folterungen mit Stöcken, Enthauptungen. Szenen, die man sich nicht ansehen kann. Schauen Sie, ich habe 300.000 Migranten geholfen und wohl auch noch einen weiteren traurigen Rekord aufgestellt: Ich bin der Arzt, der immer die Leichenschau durchzuführen hatte. Diesen Bildern kann man sich wirklich nicht entziehen. Das ist einfach zu viel.
Bei welcher Gelegenheit haben Sie die Dateien Kardinal Montenegro übergeben?
Bei verschiedenen Gelegenheiten. Der Kardinal hatte übrigens schon weiteres ähnliches Material. Zu Montenegro, der eine Person von hoher Sensibilität ist, habe ich eine starke Beziehung. Er ist mehrmals nach Lampedusa gekommen, wenn dort wieder Flüchtlinge an Land gebracht wurden, und wir trafen uns auch bei einer Konferenz, die vor wenigen Wochen in Sardinien stattfand. Ich habe ihm die Videos gegeben, die aus den Handys der Migranten stammen, zusammen mit anderen Fotos, die ich im Krankenhaus machte, um den physischen Zustand dieser Verzweifelten zu dokumentieren: Die Verbrennungen mit Treibstoff sind besonders schlimm. Ich habe Menschen ohne Gesicht gesehen, die nicht mehr zu erkennen waren.Wussten Sie, dass diese Zeugnisse an den Vatikan weitergeleitet würden?
Nein. Ehrlich gesagt tut es mir ein wenig leid, dass auch der Papst durch diese Bilder traumatisiert werden könnte. Ich hoffe aber, dass es über ihn zu einer größeren Sensibilität gegenüber dem Drama dieser Menschen kommt – Nigerianer, Eritreer, Somalis –, die zur Tauschware für libysche Menschenhändler werden.
Minister Salvini behauptet, dass Libyen ein sicherer Hafen sei.
Das ist ein Hafen des Todes. Glauben Sie mir, diese Migranten fliehen gerade vor dem Horror in den libyschen Lagern, in denen die Menschenhändler ihnen das Schlimmste antun, wobei sie sich zur Strafe oder zu ihrem Vergnügen gerade die Schwarzen aus Zentralafrika vornehmen. Bevor das Schiff Diciotti Kurs auf Catania nahm, lag sie vier Tage vor Lampedusa, wo schon 13 Kinder und Kranke an Land gingen. Als sie von dem Risiko hörten, vielleicht nach Libyen zurückkehren zu müssen, fingen sie an zu weinen und auch mich anzuflehen.
Was haben Sie gedacht, als Sie sahen, wie das Schiff in Catania blockiert wurde?
Es war unmenschlich, die ganze Zeit Migranten an Bord festzuhalten, die diese dramatischen Erfahrungen gemacht haben. Ich habe eine Petition an den Staatspräsidenten und an Salvini unterzeichnet, damit sie an Land gehen können.
Es sind nicht wenige, die den harten Kurs von Salvini unterstützen. Glauben Sie, dass es im Land ein Klima der Intoleranz gibt?
Die Italiener sind nicht schlecht, aber sie sind schlecht informiert. Sie sind die Opfer eines medialen Dauer-Bombardements, das von den Migranten als Gewalttätern, Kranken, Arbeitsplatzdieben redet. Es gibt eine Hasskampagne, die auf der Lüge gründet. Es ist richtig, gegen diejenigen zu kämpfen, die ihre spekulativen Geschäfte mit der Aufnahme machen, aber nicht gegen diejenigen, die sich vielleicht durch Schwarzarbeit ein Einkommen schaffen und in der Kriminalität landen. Reden wir Klartext: Die Arbeitsplätze haben doch nicht die Flüchtlinge weggenommen, sondern die Regierungen – auch die vorletzte -, die die Unternehmer unter Druck setzten, so dass viele Unternehmen geschlossen wurden.
Ist Lampedusa immer noch ein Modell?
Auf ihr lebt ein außergewöhnliches Volk, dessen Tür immer offen steht. Unser Motto steht an der Mole: „Die Menschen schützen, nicht die Grenzen“. Wer diese Insel auch immer regiert.
Nachbemerkung der Redaktion: Inzwischen verdichten sich die Nachrichten, dass Libyen weiter im Chaos versinkt. Eine neue Miliz, die sich „Siebte Brigade“ nennt, ist auf den Plan getreten, um einen Teil von Tripolis unter ihre Kontrolle zu bringen. Unter anderem, um von der in Tripolis residierenden „Regierung“ Fayez al Serraj (deren Autorität nicht einmal bis zur Stadtgrenze von Tripolis reicht) Schutzgeld zu erpressen. Fayez al Serraj hat den Notstand ausgerufen, was bedeutet, dass ihm nun andere Milizen „zu Hilfe“ kommen, d. h. ebenfalls nach Tripolis vorrücken. Inzwischen sollen schon etwa 2000 Flüchtlinge, die mit gewöhnlichen Verbrechern in den Gefängnissen oder Lagern von Tripolis saßen, in der Stadt und ihrer Umgebung untergetaucht sein (weil ihre Bewacher das Weite suchten). Einen Teil von ihnen, so hört man, wurde schon wieder eingefangen.