Pfiffe in Genua
Für das, was am Mittag des 14. August in Genua geschah, ist das Wort „Alptraum“ leicht dahingesagt. Der Stoff, aus dem solche Träume gemacht sind, entstammt meist einer alltäglichen Erfahrung, die plötzlich bedrohlich wird. Darauf, dass eine Brücke wegbrechen kann, lebende Menschen unter sich begräbt und Autos und Lastwagen ins Leere stürzen lässt, sind unsere Synapsen nicht vorbereitet.
Suche nach Schuldigen
Spektakulärer kann ein Bauwerk kaum zusammenstürzen. Sicher, es gab die Twin-Towers von New York. Aber die 43 Toten von Genua waren nicht das Werk von Angreifern, die aus gekaperten Flugzeugen Bomben machten. Auch wenn es am Tag der Katastrophe regnete und stürmte, kam sie aus dem Nichts, am Tag vor Ferragosto, ohne Erdbeben, einfach so. Das Ausrufungszeichen hinter der Frage nach den Schuldigen ist riesengroß.
Die Antwort ist zunächst einfach. Dieser Abschnitt der Autobahn fällt in die Kompetenz einer Aktiengesellschaft, die Atlantia (früher Autostrade per Italia) heißt und 1999 privatisiert wurde, mit der Benetton-Gruppe als Hauptaktionär. An sie vergab der Staat die Konzession für 3100 Autobahn-Kilometer, mit dem Recht, hier Mautgebühren zu kassieren, aber auch mit der Verantwortung für ihre Instandhaltung. Dass die Brücke schon vor über 50 Jahren gebaut wurde und dem Zuwachs des Verkehrs, vor allem der LKWs, nicht mehr gewachsen war, ändert nichts daran, dass die Sorge für ihre Sicherheit in die Zuständigkeit der Atlantia fiel. Ohne dem Gerichtsverfahren vorgreifen zu wollen: Die Indizien häufen sich, dass hier mörderischer Leichtsinn am Werk war. Die Gefahr korrodierter Tragetrossen war, wie sich jetzt zeigt, den Experten seit Jahren bekannt.
Tiefere Ursache: Privatisierung?
Die Frage nach den Schuldigen muss weitergraben. Dass der tiefere Grund die Privatisierungssucht sein könnte, die in den letzten Jahrzehnten (nicht nur in Italien) zum politischen Dogma wurde, ist naheliegend. Zumindest bei Gütern des Gemeinwohls (z. B. Wasser, Verkehr, Gesundheit, Bildung) hat der Glaube an die heilsamen Wirkungen des freien Wettbewerbs Risse bekommen. Andererseits ist auch ihre Verwaltung durch den Staat kein Allheilmittel. Die Vergangenheit zeigte, zumindest in Italien, dass auch sie zur Quelle von Ineffizienz und Korruption werden kann.
Wer also nach den Vätern dieser Privatisierung fragt, trifft auf Politiker jeder Couleur, von Prodi bis Berlusconi (eine italienische Thatcher gab es bisher nicht). Der Unterschied: Die Rechte setzte eher auf die Freiheit des Unternehmertums, die Linke auf zusätzliche Kontrollen. Die Lega, die jahrzehntelang zur Berlusconi-Koalition gehörte, schlug sich auf die erste Seite.
Die Schuld der gesamten „Kaste“?
Der Zusammensturz der Brücke von Genua hat erneut in Bewusstsein gerückt, dass es sich hier nicht nur um eine akademische Frage handelt, und könnte damit zum Meilenstein eines Lernprozesses werden. Dass die regierenden Parteien die Autobahnen jetzt wieder nationalisieren wollen, ist an sich nichts Schlechtes. Das Übel beginnt woanders: Sie nutzen den Einsturz, um ihn als moralisch verwerfliche Tat der gesamten bisher regierenden „Kaste“ anzulasten, insbesondere der PD. Was die Unterschiede bei der Frage der Kontrollen und die frühere Rolle der Lega unterschlägt und somit auf Vergesslichkeit setzt. Und sich skrupellos des Entsetzens bedient, das der Brückeneinsturz auslöste.
Ovation und Scherbengericht
Wie sich zeigt, durchaus mit Erfolg. Am 19. August fand in Genua das Staatsbegräbnis für die Opfer statt. In Italien ist es üblich, dass Verstorbene beklatscht werden. Aber es ist ungewöhnlich, dass dies auch mit anwesenden Parteienvertretern geschieht. Am 19. August geschah es: Die Menge empfing Di Maio und Salvini, wie in Youtube zu sehen, mit einer Ovation. Der ebenfalls erschienene junge Generalsekretär der PD, Martina, wurde teils ausgepfiffen, teils ignoriert. So wurde die Trauerfeier zum Scherbengericht für die PD und die Linke insgesamt.
In der „Repubblica“ vom 22. August maß der Politologe Piero Ignazi dem Ereignis die gleiche symbolische Bedeutung zu wie dem Hagel von Geldmünzen, der Craxi 1993 vor seinem römischen Hotel empfing, als ihn das Parlament gerade vom Korruptionsvorwurf „freigesprochen“ hatte. Auch jetzt markiere es das Ende einer Ära, „eine Wasserscheide in der kollektiven Vorstellungswelt“, auch wenn diesmal die Menge die Inkarnation der „Macht“ in der PD sehe. Eine Einschätzung, die im Blog der 5SB prompt Begeisterung auslöste. Offenbar hatte dessen Redaktion nicht den Rest von Ignazis Kommentar gelesen.
Ignazis psychologische Interpretation
Hier ein (von uns übersetzter) Auszug:
„Heute wird alles, was nicht geht, der PD angelastet. Genau das Gleiche, was Berlusconi nach 1994 tat: Er habe nichts mit dem zu tun, was vorher geschah. Er war neu, jungfräulich. Auch die 5SB kann jetzt behaupten, die Reinheit der Unberührten zu haben. Natürlich nicht die Lega. Aber ihr Bündnis mit den 5-Sterne-Bewegten hat sie von der Ursünde der Macht gereinigt. Die grillinische Berührung hat heiligende Kraft …
Die zusammenbrechende Brücke reißt eine ganze politische Klasse, eine politische Führung mit sich. Die Opposition gegen das politische und ökonomische Establishment ist zur alles zerstörenden emotionalen Kraft geworden. Die Gelb-Grünen (‚gelb‘ ist die Farbe der 5SB, ‚grün‘ die Farbe der Lega, HH) nützen das ohne Skrupel bis zur Neige aus. Ihnen bietet sich eine gigantische Gelegenheit, um bei Null anzufangen: Von hier, von diesen Toten aus lassen sie eine neue Phase beginnen und begründen damit ihre tiefere Legitimität. Wer sich widersetzt, ist ein Feind des Volkes. Der Furor, mit dem Di Maio in diesen Tagen auf die öffentliche Meinung einzuwirken suchte, drückt nicht nur die gerechte Empörung über diejenigen aus, welche die Katastrophe – vielleicht – hätten verhindern können. Sie drückt die letzte, vielleicht endgültige Hinwendung der 5SB zum reinen Populismus aus. Regeln, Normen, Verfahren gibt es nicht mehr. Was stattdessen Oberwasser bekommt, ist der Drang nach einer summarischen Volksjustiz. Das Primat des Gesetzes, auf das sich Grillo so oft berief, wenn er gegen Berlusconi polemisierte, verschwindet. Die gegenseitige Umarmung mit der Lega hat diese von ihrer sündigen Nähe zur Macht gereinigt, aber sie hat auch die 5-Sterne-Bewegung mit einem hochkarätigen Populismus infiziert, der dem ‚Volk‘ – früher Padaniens, heute Italiens – die höhere Legitimität zuspricht als dem staatlichen Gesetz.“
Ignazi meint abschließend, es sei ein „enormer Fehler“ der PD gewesen, nach der März-Wahl Verhandlungen mit der 5SB abzulehnen und sie damit in die Arme der Lega zu treiben. Wie andere linke Intellektuelle sieht er in der 5SB eine Art leere Leinwand, in das ihr jeweiliger Bündnispartner das politische Profil einzeichnet. An dieser originären Unschuld zweifle ich.
Die Ereignisse bei der Trauerfeier am 19. August wie auch Ignazis Interpretation (die ich ansonsten teile) sprechen dafür, dass die Herrschaft des Populismus in Italien nicht so schnell enden wird. Der Brückeneinsturz von Genua hat sie zusätzlich gefestigt.
Nachbemerkung: Trotzdem steht Italien nicht monolithisch hinter der rechtspopulistischen Koalition. Die italienische Gesellschaft ist gespalten, es gibt auch Widerstand. Gegen Salvinis Verbot, die 177 Flüchtlinge auf der „Diciotti“ von Bord gehen zu lassen, entwickelte sich in Catania eine regelrechte Protestbewegung. Es gibt auch weniger spektakuläre Beispiele. Aus dem apulischen Küstenort Castellanata Marina kommt die Nachricht, dass Badegäste den Versuch eines Stoßtrupps der Lega verhinderten, den Strand von den (meist aus Afrika kommenden) ambulanten Händlern zu „säubern“. Dass die Lega in die Fußstapfen von Mussolinis „Squadristi“ tritt, ist beängstigend. Dass sie dabei noch auf Widerstand aus der Zivilgesellschaft trifft, lässt hoffen.