Der Plan C

Nach den letzten Umfragen unterstützen immer noch etwa 60 Prozent der italienischen Wählerschaft die Koalition von 5-Sterne-Bewegung und Lega (auch wenn es im Block Verschiebungen gibt: Die Wählergunst für die 5SB hat sich Punkt um Punkt vermindert, für die Lega seit Regierungsbeginn fast verdoppelt, sie liegt jetzt bei 30 %).

Angst vor dem definitiven Bruch

Aber nicht alles passt ins Bild. Dazu gehört das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die Ende Oktober das Meinungsforschungsinstitut Demos zum Konflikt um den italienischen Haushaltsplan für das Jahr 2019 durchführte. Er will die Versprechen einlösen, mit dem die Koalitionsparteien im März die Wahlen gewannen: Grundeinkommen für Arbeitslose und bessere Renten. Die EU-Kommission legte ihr Veto ein, da dies dem überschuldeten italienischen Staat ein weiteres Defizit von mindestens 2,4 % des BSP aufbürden würde – und der Wachstumsschub, den sich davon die Regierung verspricht, mehr als fraglich ist.

Demos fragte die Bevölkerung, wie sich nun die italienische Regierung verhalten solle. Das Ergebnis war eine kleine Überraschung: Für nur 44 % der Befragten hatte es Vorrang, die Versprechen durchzusetzen (20 % der Befragten waren ohne Abstriche dafür, und 24 % wenigstens für den Versuch, mit Brüssel zu einer Einigung zu kommen, ohne jedoch am Ende seine Kernpunkte aufzugeben). Während für 51 % hatte die Einigung mit Brüssel Vorrang hatte: 17 % befürworteten die Umsetzung der Brüsseler Vorgaben ohne Wenn und Aber, und 34 % wollten einen Kompromiss, auch wenn dafür Kernpunkte geopfert werden müssten. Nicht so sehr aus Liebe zu Europa, so die Meinungsforscher, sondern eher aus Angst vor den Folgen eines definitiven Bruchs.

Wie reimt sich dies damit zusammen, dass die Bevölkerung trotzdem mit klarer Mehrheit hinter der Koalition steht, auch wenn diese schwört, im Konflikt mit Brüssel „keinen Millimeter“ zurückweichen zu wollen?

Der alte Plan: raus aus Europa

Die Frage unterstellt, dass die Koalition, auch aus Sicht der Bevölkerung, immer noch gegen Europa ist. Aber dies Verhältnis ist mittlerweile – auf Fachchinesisch – „multioptional“ geworden.

Anfangs war Salvini, der „Souveränist“, wohl tatsächlich gegen die EU, wie Di Maio, das Ziehkind Grillos, zumindest für den Austritt aus dem Euro war. Dass diese Absichten im Koalitionsvertrag unerwähnt blieben, schien vor allem taktische Gründe zu haben. Als sie mit den erwähnten Versprechen auf Konfliktkurs zu Brüssel gingen, nährte dies den Verdacht, jetzt das alte Ziel auf einem Umweg zu verfolgen. Denn nun ließ sich der Rückzug aus dem Euro oder der EU damit begründen, dass die „Eurobürokraten“ das italienische Volk im Elend halten wollen, ohne Grundeinkommen und mit schlechter Rente. Die Regierung kooptierte Professor Savona, dessen Markenzeichen der „Plan B“ zum Euro-Austritt war (s. in unserem Blog „Gewolltes Chaos“ vom 28. Mai). Und in Straßburg unterstützten 5SB und Lega einen Antrag, austrittswillige Länder für die Schäden, die ihnen aus dem Euro entstanden seien, zu entschädigen. Alles schien zusammenzupassen: Sie bereiten sich auf den Austritt vor. Der Haushaltsplan für 2019 schien nur der erste Schachzug zu sein.

Strategiewechsel

Die näher rückende Europawahl im Mai 2019 änderte die Perspektive. Überall in Europa haben die Rechtspopulisten Rückenwind. Plötzlich erscheint möglich, dass die Wahl die Kräfteverhältnisse im Europaparlament und in der EU-Kommission grundlegend ändern könnte. So dass es zu Sanktionen wegen des italienischen Defizits gar nicht mehr kommt.

    Die beiden in Rom

Die beiden in Rom

Das hatte nicht nur Auswirkungen auf den Fahrplan des Konflikts mit Brüssel, sondern förderte ehrgeizigere Pläne. Nachdem Salvini am 8. November in Rom Besuch von Marine Le Pen bekommen hatte, war von Austritt keine Rede mehr. In die Europawahl werde man, so Salvini, zwar ohne transnationale Liste gehen (man bleibt „souverän“). Aber im europäischen Parlament bilde man mit den Freunden – Le Pens Rassemblement national, Freiheitliche Partei Österreichs, Wilders‘ holländische Freiheitspartei, Vlaams Belang in Belgien, polnischer Kongress Neue Rechte, AfD – die Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“ (ENF), um „Europa vor der EU zu retten“. Und um für die wichtigen Ämter (z. B. den Kommissionspräsidenten) gemeinsame Kandidaten aufzustellen.

Anstelle des alten Austrittsplans B gibt es nun also einen „Plan C“: nicht raus aus der EU, sondern mit Volldampf rein, um sie von innen umzudrehen. Salvini selbst, so plauderte er acht Tage später, werde schon von vielen Partnern bedrängt, der ENF-Spitzenkandidat für den Kommissionspräsidenten zu werden. Sollte sie nicht auf Anhieb zur größten Fraktion werden, fügte er mit der ihm eigenen Bescheidenheit hinzu, müsse sie wenigstens die zweitgrößte werden, „um das bisherige Bündnis zwischen EVP und Sozialisten durch unser Projekt eines radikal veränderten Europas zu ersetzen“.

Das rechtspopulistische Europaprojekt

Auf die Zweifel, die es auch in der eigenen Wählerschaft gibt, kann nun Salvini antworten: Ich bin nicht gegen Europa, sondern nur gegen dieses Europa. Die sozialen Wohltaten, derentwegen ihr uns gewählt habt, können auch gegenüber Brüssel durchgesetzt werden, wenn die Europawahl zum Plebiszit für die Regierung (und mich) wird.
Auch das Bündnis mit der EVP ist kein Hirngespinst mehr. Zwar betonte diese auf dem Kongress, den sie eben in Helsinki zur Vorbereitung der Europawahlen abhielt, noch einmal ihre Distanz zu den Rechtspopulisten. Aber im gleichen Atemzug kürte sie Manfred Weber von der CSU zu ihrem Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidenten. Und der empfahl sich den Delegierten als „Brückenbauer“, vor allem nach rechts, angefangen mit dem anwesenden EVP-Mitglied Viktor Orban (der ihn zum Dank gleich mitwählte). Auch dem abwesenden Salvini hat Weber schon Avancen gemacht: Im Sommer lobte er dessen Flüchtlingspolitik, und am 8. September erklärte er der Turiner „Stampa“, dass Salvini wie Kaczynski in Polen und Orban in Ungarn nun einmal Realitäten seien, mit denen man sich „an einen Tisch“ setzen müsse, „um Kompromisse zu finden. Und ich denke, ehrlich gesagt, dass dies nicht so schwierig sein wird“. Nach dem Brexit wolle er als Kommissionspräsident das (restliche) Europa „zusammenhalten“. Er signalisierte auch gleich ideologische Nähe: „Im Zentrum des bevorstehenden Wahlkampfs (der EVP) wird die Identitätsfrage stehen“. Wir stehen uns nah, ist die kaum verhüllte Botschaft.

Wer meint, dass die Rechtspopulisten in Europa zu keiner gemeinsamen programmatischen Zielsetzung fähig sind, irrt. Salvinis Europaprojekt hat schon Konturen: Erstens sollen alle zentralen Sparvorgaben außer Kraft gesetzt werden. Zweitens der europaweite Stopp jeder Immigration, für den Salvini schon mal die eigene Führerschaft reklamiert („In nur vier Monaten haben wir gezeigt, dass es bei entsprechendem Willen möglich ist, die Schlepper und Anlandungen zu blockieren“): militärische Abdichtung aller Grenzen, NGO-freies Mittelmeer, geschlossene Häfen, Übertragung der libyschen „Lösung“ auf andere Staaten Afrikas. Drittens die Rückkehr zu (identitären) Werten wie Christentum, Familie, Leben, weg von Homoehen, vom Geschwätz über Menschenrechte. Ist das unter Rechtspopulisten etwa kein konsensfähiges Programm?

Während Brechts „Dreigroschenoper“ fragte, was der Einbruch in eine Bank gegen ihre Gründung ist, fragt heute Salvini: Was ist der Austritt aus der EU gegen ihre Übernahme?

PS: Hier war fast nur von Salvini die Rede. Was nicht bedeutet, dass sein Regierungspartner Di Maio dabei steht und „lacht“, wie Rossana Rossanda meint. Auch er bekämpft die „Eurobürokraten“, auch die 5SB hat Appetit auf ihren Anteil am europäischen Kuchen.