Kandidat Minniti

Wer sich für Italien noch eine andere Zukunft erhofft als das gegenwärtige Bündnis zwischen Lega und 5SB, kommt an der PD nicht vorbei. Auch wenn sich bei ihr die Metapher des havarierten Schiffs, das steuerlos zu sinken droht, weiterhin aufdrängt. Reduzierte sie schon die März-Wahl auf eine Kümmerexistenz von 18,7 %, so hat sich seitdem ihr Abstieg noch fortgesetzt. Eine Alternative, die es in anderen europäischen Ländern vielleicht gibt, ist nicht in Sicht: Die Grünen sind in Italien fast inexistent, der Versuch einer linken Neugründung ist im März gleich mitgescheitert. Nun fixieren sich die verbliebenen Hoffnungen auf einen PD-„Kongress“, der formal ansteht, weil der kommissarische Generalsekretär Maurizio Martina diese Funktion wieder aufgegeben hat. Anders als es das Wort suggeriert, handelt es sich dabei um eine Serie von Versammlungen, die bei der Basis (sofern noch vorhanden) beginnen und in denen über die Kandidaten und ihre Programme diskutiert und abgestimmt wird. Ein zeitaufwendiges Verfahren, das erst im Frühjahr 2019 enden wird. An das sich aber die allgemeine Ratlosigkeit klammert, weil man hofft, daraus könne irgendwie wie Phoenix aus der Asche eine neue Politik samt neuer Führung geboren werden.

Renzi und der Rest

Die Kandidaten für den neuen Generalsekretär melden sich schon. Nicht dabei ist Matteo Renzi. Obwohl er sich, trotz des von ihm mitverursachten Desasters, immer noch für das politische Schwergewicht seiner Partei hält. Aber ein Rest von Realismus ist ihm geblieben. Auch bei traditionellen Linkswählern ist er zu einem der unbeliebtesten, wenn nicht gar verhasstesten Politikern Italiens geworden. Mit ihm als Generalsekretär wäre die PD chancenlos.

Aber er ist noch da, nicht nur als bester Debattenredner, sondern auch als Machtpolitiker. Schon als er nicht mehr Regierungschef war, aber noch Generalsekretär, besetzte er die innerparteilichen Schaltstellen systematisch mit seinen Gefolgsleuten. Jetzt arbeitet er an einem Netzwerk sog. Bürgerkomitees („Comitati Civici“), in denen sich seine Wählerbasis versammelt (kultiviert, urban, bessergestellt, cool, laut Reckwitz die „Neue Mittelklasse“). Es ist Renzis „Parallelorganisation“, seine Basis für den innerparteilichen Machtkampf und im Bedarfsfall auch für die Spaltung (was Renzi dementiert). So bleibt die PD trotz Renzis Verzicht in Schieflage: Ohne sich zu exponieren, kann er weiterhin seine Fäden ziehen. Der abgedankte Kapitän ist nicht mehr auf der Brücke, aber rumort unter Deck weiter.

Drei Konkurrenten

Gegenwärtig gibt es drei Kandidaten, denen Chancen eingeräumt werden, Generalsekretär zu werden: den bisherigen Interim-Sekretär Maurizio Martina, den Regionalpräsidenten von Latium, Nicola Zingaretti, und Gentilonis früheren Innenminister Marco Minniti. Alle drei setzen sich von Renzi ab, indem sie mit ihrer Politik wieder zu den ärmeren Schichten an den großstädtischen Peripherien und in den Klein- und Mittelstädten zurückkehren wollen. Angesichts von Renzis Klientel, die er in seinen „Comitati Civici“ versammelt, wird hier eine mögliche soziale Bruchlinie in der PD erkennbar.

Natürlich gibt es zwischen den drei Kandidaten Unterschiede. Martina, der im März nach der Renzis Rücktritt dessen Posten als kommissarischer Generalsekretär übernahm ist mit 40 Jahren der jüngste. Als die anderen PD-Führer noch sprach- und orientierungslos waren, schlug er sich in dieser Rolle tapfer. Jetzt präsentiert er sich als „Zentrist“ mit der (auch gegen Renzi gerichteten) Forderung, aus der PD wieder eine vereinte und pluralistische Partei zu machen

Der 52-jährige Zingaretti hat eine wichtige Empfehlung: den Nachweis, dass man auch als PD-Politiker noch Wahlen gewinnen können. Als die PD am 4. März ihre vernichtende italienweite Niederlage einfuhr, gab es gleichzeitig in Latium Regionalwahlen, bei denen Zingaretti, wenn auch nur knapp, wiedergewählt wurde. Er gilt als „links“, weshalb ihn Renzi unbedingt verhindern möchte. Was wiederum für den Teil der PD, der sich gerade aus Renzis Umklammerung lösen will, eine Empfehlung ist. Nach den neuesten Umfragen liegt er unter den drei Kandidaten in Führung.

Der „rechte“ Altkommunist

Der dritte, der nach den Umfragen knapp hinter Zingaretti liegt, ist Marco Minniti, mit 62 Jahren der älteste Kandidat, der trotz seiner KPI-Vergangenheit auch als der „rechteste“ von ihnen gilt. Worin viel Vereinfachung steckt, weil wohl kaum jemand so wie Minniti das Dilemma verkörpert, in das die italienische Linke durch das Migrationsproblem geraten ist.

Der Kandfdat ...

Der Kandfdat …

Angesichts seiner bürgerlichen Herkunft gehört er zu der Gruppe hoch gebildeter und vielseitig interessierter Intellektueller, die – wie z. B. Rossana Rossanda oder Pietro Ingrao – in ihrer Jugend ihre „kommunistische Wahl“ trafen und damit auch das Erscheinungsbild der italienischen Kommunisten mitprägten. Er stammt aus einer kalabresischen Offiziersfamilie (sein Vater war Luftwaffengeneral) und stieß schon mit 17 Jahren zur Jugendorganisation der KPI, nach der Legende aus Protest gegen das mütterliche Verbot, Pilot bei der italienischen Luftwaffe zu werden. Zunächst studierte er in Messina Philosophie (mit Abschlussarbeit über Cicero). Dann wurde er Berufspolitiker, wobei die Besonderheit seiner Karriere darin bestand, zum linken Fachmann für Fragen der Sicherheit, Kontrolle der Geheimdienste usw. zu werden. Eine Spezialisierung, die in linken Kreisen schnell zum Etikett führt, „rechts“ zu sein, weil es eben „Rechte“ sind, die mit Vorliebe über Sicherheit reden. Minniti, der sich dadurch auch intellektuell herausgefordert sah, hat dazu gerade in diesem November ein Buch mit dem provozierenden Titel „Sicurezza è libertà“ präsentiert, Sicherheit ist Freiheit, in dem er sich für einen Perspektivwechsel einsetzt (ich kenne das Buch noch nicht, aber Interviews gesehen, die er bei dazu gab). Sicherheit, so sein Argument, sei ein Grundrecht, das gerade auch eine linke Partei ernst nehmen müsse, die sich für die ärmeren Schichten einsetzt – wenn sich z. B. in einem Stadtteil Unsicherheit ausbreite, können die Reicheren wegziehen, während die Ärmeren bleiben müssen. Man dürfe das Thema Sicherheit auch deshalb nicht der Rechten überlassen, weil sie dieses auf ein Problem der öffentlichen Ordnung reduziere, während es dabei auch um soziale Sicherheit gehe, indem das Wohnen und die öffentlichen Dienstleistungen erschwinglich bleiben. Womit Minniti – zumindest implizit – auch die Politik Renzis kritisiert.

... und sein Buch

… und sein Buch

Als Gentiloni im Dezember 2016 die Regierung übernahm, übernahm er auch die meisten Minister seines Vorgängers Renzi. Eines der wenigen neuen Gesichter war Minniti, der sein Innenminister wurde. Wer in Minniti den „Rechten“ sieht, konnte dies schon als ein Zurückweichen vor dem Druck der Rechten interpretieren. Oder als Versuch, ein Thema zu besetzen, das zu wichtig ist, um es der Rechten zu überlassen.

Während seiner Amtszeit stand Minniti für eine durchaus fortschrittliche Integrationspolitik. Im Unterschied zu Salvini, der ankommende Flüchtlinge erst einmal in großen Sammellagern kaserniert, trat Minniti für ihre dezentralisierte Aufnahme ein („Accoglienza diffusa“). Die Ziele können gegensätzlicher kaum sein: Minniti wollte die Integration, Salvini will die Wiederabschiebung vorbereiten. Und Minniti fügt hinzu: Der von Salvini immer wieder beschworenen „Sicherheit“ dient seine Politik gerade nicht.

Libyscher Sündenfall

Aber gleichzeitig wollte Minniti auch den Zustrom der Flüchtlinge verringern. Nach dem Vorbild Angela Merkels, die es schaffte, die Balkanroute zu schließen, indem sie mit Erdogan vereinbarte, die Flüchtlinge in der Türkei festzuhalten. Die Flüchtlinge, die Minniti stoppen wollte, kamen aus Afrika und stiegen in Libyen in die Boote. Im Februar 2017 schloss er mit der in Tripolis residierenden Phantomregierung ein Abkommen, das sie in Libyen festhalten sollte. Dort gibt es keinen einheitlichen Staat mehr? Um seinen Plan zu retten, packte Minniti die Hybris, indem er nun auch Verhandlungen mit 60 Stammesführern aufnahm, mit denen er im April 2017 ein zweites Abkommen schloss. Nach dem Prinzip Hoffnung, denn er setzte darauf, dass der UNHCR in kürzester Zeit die libyschen Flüchtlingslager unter ihre Kontrolle bringen und Libyen in absehbarer Zeit wieder zu einem geordneten Staatswesen werden würde. Beide Hoffnungen waren illusionär, zu Lasten von Hunderttausenden von Flüchtlingen, die immer noch in libyschen Lagern verkommen, gefoltert, erpresst und versklavt werden.

Wenn er heute darauf angesprochen wird, flüchtet er sich in seine alten Hoffnungen: Der UNHCR mache doch auch in Libyen Fortschritte, es gebe das Konzept der „humanitären Korridore“ usw. Die Ansätze, die es dafür gibt, sind Tropfen auf den heißen Stein. Zum Eingeständnis der Wahrheit fehlt ihm die Kraft, weil er damit auch ein Fragezeichen hinter seine wichtigste Tat während seiner Amtszeit als Innenminister setzen würde.

Immerhin bietet die Kandidatenkür den noch verbliebenen PD-Anhängern die Qual der Wahl. Auch wenn die Aussichten, dass sich die PD mit diesen Vorwahlen wieder aus ihrem Tief herausarbeiten kann, nicht gut stehen. Früher galten sie als eine Art Zaubermittel, um die Menschen zu mobilisieren. Und tatsächlich beteiligten sich Millionen an ihnen. Die jüngste Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass sich nur noch 9 % der Menschen wirklich dafür interessieren, wer neuer Generalsekretär der PD wird.