Wendejahr
Eine kleine Szene, die das heutige Italien charakterisiert: Salvini erscheint zum Fest der Ultras vom FC Milan in Bomberjacke mit Milan-Schal. Dort trifft er Luca Lucci, einen bekannten Schläger und Anführer der Ultras, der schon mehrfach Stadionverbot erhielt und wegen Drogenhandels gerade anderthalb Jahre abgesessen hat. Großes Hallo, Männerlachen und Schulterschlagen. Salvini zeigt: Die Fan-Kurven, mit ihren Sprechchören und Gesängen gegen die andere Mannschaft, gegen Schwule, Schwarze und alles, was „anders“ ist, das ist auch seine Welt, er ist einer von ihnen. Hinterher zieht er es ins Lächerliche: „Gegen mich wird ermittelt, gegen sie wird ermittelt. Na und?“.
So redet der italienische Innenminister, der „Sicherheit“ zum obersten Staatsziel erklärte und seinen Feldzug gegen die Flüchtlinge unter anderem damit begründet, dass sie nach Italien kämen, um Drogen „an unsere Kinder“ zu verkaufen. Wie passt das zu seiner Verbrüderung mit Luca Lucci, der im Milan-Stadion dealt? Weil der einer von „uns“ ist. Dass ein Gericht gegen Salvini wegen Freiheitsberaubung im Amt ermittelte, weil er Flüchtlinge wochenlang nicht an Land ließ – darunter Kranke, Schwangere, Kinder –, belustigt ihn. Er tat es, um das Volk zu „schützen“. Aus diesem Volk kommt dann auch kein Aufschrei der Empörung. Und Salvinis Umfragewerte steigen weiter.
Rückblick auf 2018
Selten hat sich in Italien der Wind schneller gedreht als in diesem Jahr. Die beiden großen Wahlversprechen, mit denen die Koalition die Wahlen gewann – „Reddito di cittadinanza“, Rücknahme der Rentenreform – wurden zwar nur halb eingelöst. Aber die Linke hat abgedankt, und es gab eine kulturelle Wende, von der die Rechte bisher nur träumen konnte. Das Spiel mit der immer wieder angefachten Angst vor den Migranten hat Italien in die moralische Regression getrieben, ein Land ohne Empathie. Salvini wurde zum Gegenpapst eines reaktionären Christentums, das nur noch aggressive Selbstverteidigung kennt, und Francesco zum Prediger in der Wüste. Emblematisch ist der Fall des Reifenhändlers von Monte San Savino, der aus Angst vor Einbrüchen jede Nacht in seinem Geschäft schlief – und der, als eines Nachts die Diebe doch kamen, sofort schoss. Ein junger Moldawier verblutete. Als die Justiz wegen exzessiver Notwehr ermittelte, wusste Salvini sofort, dass er „auf der Seite dessen steht, der sich verteidigt“. Das ist die Ursituation, die er immer wieder beschwört: Hier die Angst des braven Bürgers, der sich, seine Familie und sein Geschäft verteidigt, dort der fremde Eindringling, vielleicht sogar mit der schwarzen Hautfarbe, der alles an sich reißen will. Sich dagegen zu wehren, mit allen Mitteln, das ist Heldentum. Das Recht auf Selbstverteidigung muss noch ausgeweitet werden, wie bei den Bootsflüchtlingen bereits geschehen.
Es ist das Erfolgsrezept, mit dem er „den Italienern ihre Würde zurückgibt“. Die Justiz, die gestern noch unantastbar schien, wird zur Lachnummer; die liberalen Medien stehen wegen ihrer „Lügen“ unter Dauerbeschuss. Die 5SB macht mit. Der Weg ist frei, um nun auch Europa ins Visier zu nehmen – früher als Gegner, heute als Beute. Salvini ist zum Volkshelden geworden, auf der Straße küssen ihm ältere Damen die Hände.
Der Censis-Bericht
Ende November erschien wieder der fällige Jahresbericht des Forschungsinstituts Censis über die „soziale Situation des Landes“. Das Bild, das er von der dominanten psychischen Befindlichkeit der Italiener zeichnet, ist tiefschwarz: Ohnmachtsgefühl, Zukunftsangst, „Zurückweisung des Anderen“. Traditionelle demokratische Tabus verblassen, die politische Kultur des vergangenen Jahrhunderts verschwindet, es gebe eine neue „Emphase des Identitären“ (‚enfatizzazione identitaria‘), einen „psychischen Souveränismus“. Ursache sei das „dramatische Fehlen individueller und kollektiver Wachstumsperspektiven“, das Wahrnehmen eines „fortschreitenden Verlusts nationaler Souveränität“, von immer mehr Bedrohungen. Als Erklärung bietet dies eine Teilwahrheit, da es das Agieren der politischen Parteien auf der Rechten und das Versagen auf der Linken ausblendet und in den Wählern nur die Opfer sieht. Wähler sind auch Täter (nicht nur in Italien). Zum Erdrutschsieg der Rechten kam es, als sich ökonomisch erstmals wieder ein kleines Licht am Ende des Tunnels zeigte.
2018 nur ein Übergang?
Italophile Deutsche, die „ihr“ Italien noch wiedererkennen möchten, sollten sich beeilen. Die heutige Regierung könnte sich bald als Vorspiel von noch Schlimmerem erweisen. Die Soziologen von Censis orakeln: „Da die Schiffe des ersehnten ökonomischen Wiederaufschwungs und der wundersamen Veränderung verbrannt sind (was die neue Koalition versprach, HH), sind nunmehr die Italiener bereit, sich mit einem großen Sprung in ein unbekanntes Anderswo zu befreien“. Will sagen: Nun sind sie zu allem fähig. Womit zunächst eine ultrarechte von Salvini geführte Koalition gemeint sein könnte, in der die 5SB durch die noch vorhandenen Reste von Forza Italia ersetzt wird. Berlusconi ist dafür „weich gekocht“, er will nur noch sein Medienimperium retten. Zwar erwies sich in den vergangenen Monaten auch schon die 5-Sterne-Bewegung als fast grenzenlos anpassungsfähig. Aber noch bequemer wäre es ohne sie. Auch dafür stehen die Chancen gut. Die Lega hat den Abstand zur 5SB auf 7 Prozent erhöht – mit weiter steigender Tendenz. Berlusconi bettelt den Wechsel geradezu herbei. Seine Mitgliedschaft in der EVP ist längst kein Hindernis mehr.
Faktor Mattarella
Es gibt allerdings einen Faktor, der auch für Salvini unberechenbar bleibt und ihn wohl noch zögern lässt. Es ist Staatspräsident Mattarella, den die Sieger der Märzwahl aus der Renzi-Zeit geerbt haben und der nun wie ein erratischer Block im Wege steht. Will Salvini im nächsten Jahr den Koalitionspartner wechseln, braucht er vorgezogene Neuwahlen. Alle Umfragen sagen, dass er sie zurzeit haushoch gewinnen würde. Aber dazu müsste es sie erst einmal geben. Hier verleiht die italienische Verfassung dem Staatspräsidenten ein gewichtiges Mitspracherecht. Von ihm ist zu erwarten, dass er nicht einfach ausführt, was der jeweilige Mehrheitsführer gerade für opportun hält, sondern auch dem Grundsatz folgt, dass eine Legislaturperiode möglichst fünf Jahre dauern sollte. Allerdings muss Mattarella, der Verfassungsrechtler, als Staatspräsident auch Politiker sein. So unterschrieb er Salvinis Sicherheitsdekret, obwohl es Zweifel an seiner Verfassungskonformität gibt und Mattarella die Kompetenz gehabt hätte, es vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. Er hat darauf verzichtet – vielleicht um den Eklat in dem Moment zu vermeiden, in dem er die Regierung überzeugen wollte, beim Haushalt für 2019 mit Brüssel einen Kompromiss zu suchen. Mattarella ist ein erfahrener Mann, dessen Bruder vor knapp 40 Jahren von der Mafia ermordet wurde und der bei Bedarf auch zäh und störrisch sein kann. Und vielleicht gerade deshalb auch populär geblieben ist.
Ich weiß, ein Jahresausblick sollte hoffnungsvoller sein. Aber andere Hoffnungsträger als Mattarella hat die politische Szene Italiens zurzeit nicht zu bieten. Auch das gehört zum Notstand, in dem sich Italien befindet: nur auf die Sperrigkeit eines Einzelnen hoffen zu können, auch wenn man weiß, dass er wenig bewirken kann.