Revolte der Bürgermeister
Ich muss mich dementieren, und tue es mit Freude. Mein Artikel („Wendejahr“) vom 26. 12. endete mit der pessimistischen Einschätzung, dass den neuen Machthabern in Italien „nur noch Mattarella im Wege steht“. Seit Anfang Januar gilt dies nicht mehr: Der Widerstand ist breiter geworden.
Orlando prescht vor
Am 2. Januar meldeten die Agenturen, der 71-jährige Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, habe seine Verwaltung angewiesen, die Teile von Salvinis Sicherheitsdekret, die sich in „unmenschlicher und verbrechensfördernder“ Weise auf Flüchtlinge beziehen, gegen die Verfassung verstoßen und „nach Rassismus riechen“, nicht umzusetzen.
Was für Orlando das Fass zum Überlaufen brachte, war eine Anweisung, deren Durchführung den Kommunen obliegt: Sie sollen die Flüchtlinge mit dem schwächsten Duldungsstatus – die Schätzungen, um wieviel es sich handelt, gehen weit auseinander – nicht nur aus den Flüchtlingsheimen werfen, sondern auch aus den kommunalen Melderegistern streichen. Das klingt nach einer administrativen Formalität, hat aber für die Betroffenen schwerwiegende Konsequenzen, denn an die Registrierung im Einwohnermeldeamt sind in Italien elementare Garantien des Wohlfahrtsstaates wie die Gesundheitsversorgung und andere soziale Dienste gebunden, ebenso wie der Besitz von Dokumenten, die für eine reguläre Arbeit erforderlich sind. Im Wahlkampf hatte Salvini seiner Wählerschaft versprochen, diese Migranten schleunigst „wieder dorthin zu bringen, wo sie herkommen“. Aber da er dabei auf ähnliche Hindernisse stieß wie sein deutscher Kollege Seehofer (die „Rückführung“ stagniert), will er das Problem schon mal ersatzweise dadurch „lösen“, dass er sie aus den offiziellen Registern verschwinden lässt, d. h. zu sozialen Unpersonen macht. So dass viele Bürgermeister in dem Dekret eine „soziale Bombe“ sehen, nicht nur weil es unethisch ist und gegen Art. 10 der italienischen Verfassung verstößt (welche die Geltung elementarer Rechte auch für Flüchtlinge garantiert), sondern den Kommunen nicht weniger, sondern mehr soziale Unsicherheit bringt. Und weil es die Bürgermeister und ihre Verwaltungen zwingen will, zu Komplizen des Verfahrens zu werden.
Der Widerhall
Orlando, der hier vorpreschte, ist eine Institution. Er war in seiner Jugend der juristische Berater vom Bruder des heutigen Staatspräsidenten, den 1980 die Mafia ermordete. Dann machte er sich an die Herkulesarbeit, die sizilianische Democrazia Cristiana aus ihrer Verquickung mit der Mafia zu befreien, und wurde erstmals 1985 als Kandidat einer reformierten DC zum Bürgermeister von Palermo gewählt. Auch wenn es heute die DC nicht mehr gibt, wurde er immer wieder gewählt (zuletzt als Kandidat der PD). Wenn die Stadt heute nicht mehr gänzlich von der „Omertà“ beherrscht werde, sei dies Orlando zu verdanken, sagt man in Palermo.Sein öffentliches Nein zum Salvini-Dekret brachte eine Lawine ins Rollen. Andere Bürgermeister schlossen sich an, nicht nur die von Neapel und Florenz, sondern auch die Bürgermeister kleinerer Städte, abgestuft in den praktischen Ankündigungen, aber einig in dem Urteil, dass Salvinis Dekret so nicht umgesetzt werden dürfe. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass es sich dabei vor allem um „linke“ Bürgermeister handelte. Aber auch sie gibt es noch, ebenso wie eine Öffentlichkeit, in der ein erstes Aufatmen zu verspüren war.
Salvinis Gegenangriff
Möglicherweise ist dieses Aufatmen voreilig. Salvinis Antwort auf Orlandos Hier-steh-ich-und- kann-nicht-anders kam so postwendend, dass manche meinen, dass ihm dieser Konflikt durchaus gelegen kam – ein „Riesengeschenk“ für den kommenden Europawahlkampf, soll er gesagt haben. Und er zeigte auch gleich, wozu er gerüstet ist.
Institutionelle Antwort: Bei seinem Dekret handele es sich um ein Gesetz, „das von Regierung und Parlament verabschiedet und vom Staatspräsidenten unterzeichnet wurde und über das sich kein Bürgermeister hinwegsetzen könne“, auch wenn es ihm nicht passt. Eine Vorhaltung, die nicht auf den Loyalitätskonflikt eingeht, in dem sich „ungehorsame“ Bürgermeister befinden, die ihre Verpflichtung auf die Verfassung noch ernst nehmen und Teile des Dekrets für verfassungswidrig halten. Die „Unterschrift des Staatspräsidenten“ ist keine Garantie für Verfassungskonformität, die nur das Verfassungsgericht beurteilen kann. Salvini unterschlägt auch den Brief, den Mattarella am gleichen Tag, an dem er das Dekret unterschrieb, an Ministerpräsident Conte schrieb, mit der ausdrücklichen Forderung, bei der Umsetzung des Dekrets „die verfassungsmäßigen und internationalen Verpflichtungen des Staats im Hinblick auf die Rechte von Migranten zu beachten.“ Man kann Mattarella vorwerfen, damit das Problem auf die „Umsetzung“ verschoben zu haben. Ob allerdings die Streichung von Flüchtlingen aus dem Einwohnermelderegister eine „Umsetzung“ ist, die mit Art. 10 der italienischen Verfassung vereinbar ist, darf bezweifelt werden.
Drohungen: Die Regierung verfügt über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um „ungehorsame“ Bürgermeister gefügig zu machen oder außer Gefecht zu setzen, und Salvini benennt sie: Wer seine Anweisungen zur Änderung der Melderegister nicht befolge, ob Bürgermeister oder Angestellter des zuständigen Amtes, werde wegen Amtsmissbrauchs „persönlich, strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen“. Außerdem könnten den Kommunen auch Finanzmittel entzogen werden, die anderen Zwecken wie der urbanen Sicherheit, dem Schulwesen usw. dienen. Und schließlich die Drohung, die Bürgermeister könnten im Fall „schwerer und andauernder Gesetzesverstöße“ auch ihres Amtes enthoben werden, wonach es dann eben zu Neuwahlen kommen werde. Und liefert auch gleich eine Kostprobe des Sturms, in den die Bürgermeister damit geraten würden.
Demagogie: Bekanntlich ist das Leitmotiv der rechtspopulistischen Agitation die Parole „Unsere Leute zuerst“. So Trump, Orban, die AfD und ihre intellektuellen Wasserträger, die es inzwischen auch in Deutschland gibt. Wer es wagt, an die Menschenrechte zu erinnern, dem sind die „Anderen“ wichtiger als die „eigenen Leute“. Das Schema ist ebenso schlicht wie erfolgreich, und Salvini bei seiner Anwendung vollständig hemmungslos: Die „Freunde der Illegalen“ wolle er daran erinnern, „dass wir zuallererst an die Millionen armer und arbeitsloser Italiener denken müssen, indem wir sie gegen die vielen Verbrechen verteidigen, die von illegalen Einwanderern begangen werden, danach können wir den Rest der Welt retten… Bürgermeister, habt ihr an euren italienischen Mitbürgern, die eure Gehälter bezahlen, wirklich kein Interesse? Gibt es in Neapel oder Palermo keine Italiener, die eine Wohnung, eine Arbeit oder zumindest einen Händedruck brauchen?“ Eine Demagogie, die von tausend Unterstellungen lebt, und ein Vorgeschmack auf das, was die Bürgermeister erwartet, wenn sie sich auf den Kampf einlassen. Salvini ist siegesgewiss: „Die haben immer noch nicht kapiert, dass die Leute beim Thema Immigration auf meiner Seite stehen“.
Der Weg übers Verfassungsgericht
Was nüchtern betrachtet durchaus stimmen kann: Das Risiko der Bürgermeister ist es, sich eine Serie von Niederlagen einzufangen, welche auch die letzten „Linken“ aus dem Weg räumt. Inzwischen ist auch Orlando klar geworden, dass er sich zu weit vorwagt, wenn er das Sicherheitsdekret einfach ignoriert. Es gibt viele Verfassungsrechtler, unter ihnen ehemalige Verfassungsrichter, die den Zweifel an der Verfassungskonformität von Salvinis Dekret teilen, aber dringend zum Weg über die Gerichte raten, die dann das Problem an das Verfassungsgericht weiterleiten könnten. Es ist der Weg, auf den sich jetzt auch die Bürgermeister zu einigen scheinen.
Das macht die politische Auseinandersetzung nicht überflüssig, auch wenn sie knochenhart wird. Massimo Cacciari, der Philosoph und ehemalige Bürgermeister von Venedig, sagt den Italienern, dass es dabei „um ihre Seele geht“. Er hat Recht, aber dass er mit dem Appell an Vernunft und Moral viel politische Wirkung erzielt, kann man bezweifeln. Wenn jedoch eine ganze Stadt miterlebt, wie aus den Flüchtlingsunterkünften Hunderte oder sogar Tausende auf die Straße gesetzt werden (in Palermo sollen es demnächst 400, in Mailand 900 sein), nicht um aus der Stadt zu verschwinden, sondern um in ihren Untergrund zu gehen, dann könnte auch der einfache Verstand zu dem Urteil kommen, dass dies Wahnsinn ist. Von Salvini ist eine solche Einsicht nicht zu erwarten, seine Karriere lebt vom Ressentiment. Aber von den Bürgern – auch von denen, die vor allem Sicherheit wollen – vielleicht doch.
Salvinis Dekret ist der Versuch, auf der Grundlage der Wahl im vergangenen März und mit der 5SB als Steigbügelhalter in Italien ein rechtspopulistisches Regime zu etablieren, das elementare Verfassungsgarantien aushebelt und dabei auch die unteren Verwaltungsebenen in die Komplizität zwingt. Orlandos Aktion vom 2. Januar ist der politische Paukenschlag, der zeigt, dass es dagegen noch Antikörper gibt. Die Auseinandersetzung könnte damit eröffnet sein.