Salvinis Lächeln
Am vergangenen Samstag ertranken im Mittelmeer wieder 170 Bootsflüchtlinge. Zwischen Marokko und Spanien kenterte ein Boot mit 53 Flüchtlingen, vor der libyschen Küste versank ein Schlauchboot mit 120 Flüchtlingen. Nur noch drei wurden lebend aus dem Meer gefischt, die anderen waren verschwunden – nachdem sie vorher offenbar stundenlang im januarkalten Meer um ihr Leben gekämpft hatten.
Der Kommentar des Innenministers
Man muss das sardonische Lächeln gesehen haben, mit dem Salvini die Nachricht in Facebook kommentierte. Da saß er nun, der zuständige Innenminister, wohlgenährt und leger im Shirt mit der „Polizia“-Aufschrift, das er neuerdings gerne trägt. Er kam gleich zur Sache. Um Überlegenheit zu demonstrieren, stellt er Fragen, die sich an Zuschauer richten, die durchblicken wie er und denen er nur noch einen kleinen Hinweis geben muss: „Ist es wirklich ein Zufall, dass es seit drei Tagen wieder ein NGO-Schiff gibt, in holländischem Besitz und mit deutscher Besatzung, das vor der libyschen Küste kreuzt? Ist es ein Zufall, dass die Schlepper genau in diesen Tagen wieder anfingen, Boote und nur halb aufgepumpte Schlauchboote loszuschicken, die schnell untergehen. So dass man dann nur noch die Toten und Verletzten zählen kann?“ Mit der einen Hand zeigt er, wie sich ein imaginäres NGO-Schiff nähert, mit der anderen Hand, wie sich gleichzeitig von Libyen aus ein Boot der Schlepper in Bewegung setzt, um sich am gleichen Punkt zu treffen.
Es ist der italienische Innenminister, der hier zu Millionen von Italienern spricht. Und von höchster Stelle aus vorgibt, wie alles zu deuten ist:
• Die Toten sind das Ergebnis eines abgekarteten Spiels zwischen NGOs und Schleppern (nicht der eigenen Politik);
• hinter den NGOs steckt eine internationale Verschwörung („holländischer Besitz, deutsche Besatzung“);
• die italienischen Häfen müssen nun erst recht geschlossen bleiben.
Am Ende des Kommentars noch die rhetorische Frage: „Und ich bin der Böse?“ Was im Kasperle-Theater aus dem Publikum ein vielstimmiges „Neiiin“ erwartet. Alles Theater, lassen wir uns nicht täuschen, das ist die Botschaft.
Di Maio wird zum Antiimperialisten
Dann kommen die anderen Regierungsmitglieder. Niemand widerspricht Salvini, er hat die Deutungshoheit. Conte erklärt, von der Nachricht „schockiert“ zu sein, um dann zu erläutern: über die Schlepper, denen „endlich das Handwerk gelegt“ werden müsse. Di Maio, der selbst kräftig dazu beitrug, das Mittelmeer fast vollständig NGO-frei zu machen, zaubert am folgenden Tag einen weiteren Schuldigen hervor: Macron, der neue Lieblingsfeind (dem Di Maio noch vor einem Jahr in einem offenen, fast unterwürfigen Brief vorschlug, gemeinsam Europa „neu zu gründen“). Es liege am sog. Franc CFA (der an den Euro gebunden ist und in den ehemaligen französischen Kolonien, die zur Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion gehören, weiterhin die offizielle Währung ist, Anm. HH), der Millionen Afrikaner ins Elend stürze, weswegen sie sich auf den Weg nach Europa machen müssten. Da müsse Abhilfe geschaffen werden, er werde „sofort“ in Brüssel die Forderung auf den Tisch legen, Frankreich mit Sanktionen zu belegen.
Nun kann man streiten, ob der Franc CFA den afrikanischen Ländern, in denen er die offizielle Währung ist, nur Vorteile bringt (er bremst die Inflation, aber die feste Parität zum Euro hat auch Nachteile, wie auch die Euro-Zone zeigt). Aber nachdem vor der eigenen Haustür wieder 170 Flüchtlinge ertranken, erweist sich die Attacke gegen Macron zunächst als schlichtes Ablenkungsmanöver, das auch noch dilettantisch begründet ist: Die Flüchtlinge, die in Libyen in die Schlauchboote steigen, kommen nicht nur aus den Teilen Afrikas, die ehemalige französische Kolonien sind und noch den Kolonial-Franc als Zahlungsmittel haben (laut der „Repubblica“ kam 2018 nur jeder zehnte afrikanische Flüchtling aus diesem Bereich). Die Misere der afrikanischen Länder hat sicherlich auch externe Ursachen, von der EU-Agrarpolitik über den Klimawandel bis zur Überfischung der Meere. Wer aber die afrikanischen Probleme wirklich „an der Wurzel“ anpacken will, wie es jetzt Di Maio behauptet, disqualifiziert sich selbst, wenn er nur monokausale Rezepte bietet. Zumal auch Italien in Afrika seine koloniale Vergangenheit hat, in Eritrea, Somalia und Äthiopien, die nur deshalb weniger präsent ist, weil Italien mit Deutschland den zweiten Weltkrieg verlor.
Aber man hat nicht den Eindruck, dass es hier um Argumente geht. Di Maios Ankündigung, man werde die Bootsflüchtlinge demnächst „nach Marseille“ weiterschicken, will gar kein Beitrag zur Lösung der Flüchtlingsfrage sein. Die Flüchtlinge sind für ihn nur Spielgeld. Der Europawahlkampf beginnt, bei dem die 5SB befürchtet, gegenüber Salvinis Lega ins Hintertreffen zu geraten, deren Trumpfkarte der Kampf gegen die Migration ist. Also braucht Di Maio ein Thema, das ebenfalls „die Herzen erwärmt“, und seine Berater scheinen zu meinen, dass dies die antifranzösische Karte sein könnte. Es gibt in Italien ein altes Ressentiment gegen den romanischen Cousin im Nordwesten, und der „arrogante“ Macron wäre ein wundervolles Feindbild. Di Maio hat schon mal eine Freundschaftsanfrage an die „Gelben Westen“ losgeschickt – vor allem, um Macron aus der Reserve zu locken. Die Bedenkenlosigkeit, mit der er den italienischen Nationalismus anheizt und die Brücken zu europäischen Partnern abbricht, zeigt, wie wenig er Europa im Sinn hat.
Indoktrination
Was gegenwärtig in Italien zu besichtigen war, ist ein Stück nationalistischer Volkserziehung, die ebenso vom Gesagten wie vom Ungesagten lebt. Schuld an den Toten im Mittelmeer sind die NGOs, die Schlepper, die Franzosen. Auf keinen Fall man selbst. Ungesagt bleibt, dass fast alle Flüchtlinge, die an der libyschen Küste in die Boote steigen, um nach Italien zu kommen, die Spuren libyscher KZs tragen: Misshandlung, Folter, Vergewaltigung. Ungesagt bleibt auch, dass sich der Umgang mit diesen Flüchtlingen in der Hauptsache darauf beschränkt, sie in diese Konzentrationslager zurückzuschaffen, was man möglichst der kriminellen libyschen Küstenwache überlässt. Die Hoffnung, aus Libyen könne wieder ein funktionierender Rechtsstaat werden, ist immer noch eine Fata Morgana.
Eines jedoch darf nicht vergessen werden: Gegenüber den Flüchtlingen aus Libyen setzt Salvini fort, was schon sein Vorgänger Minniti mit der Billigung ganz Europas (auch Deutschlands) begann. Ein Unterschied ist, was mit den Flüchtlingen geschieht, die trotzdem Italien erreichen – die Aktion, einen Teil von ihnen auf die Straße zu setzen, hat gerade begonnen. Das hätte Minniti nicht getan. Ein anderer Unterschied ist das höhnisch-sardonische Lächeln, das jetzt die Politik der geschlossenen Häfen begleitet. Aber es ist das Lächeln der Wahrheit. Oliver Meiler hat recht, als er Montag in der „Süddeutschen“ schrieb, dass „Salvini nur ein Gesicht des europäischen Versagens“ ist. „Europa hat als Ganzes versagt“.
PS: Der „Corriere della Sera“ vom 22. Januar berichtet, dass Ministerpräsident Conte einen Tag nach der Katastrophe vom 19. Januar persönlich dafür sorgte, dass 150 Bootsflüchtlinge, die erneut in Seenot geraten waren, in libysche Lager „zurückgeführt“ wurden. Als die Alarmmeldungen eintrafen und sich die libysche Küstenwache für unfähig erklärte, die Schiffbrüchigen zu übernehmen, habe Conte den italienischen Auslandsgeheimdienst AISE angewiesen, auf jeden Fall zu verhindern, dass sie von dem sich bereits nähernden NGO-Schiff Sea Watch übernommen würden. Denn dieses hätte das geltende Recht befolgt, d. h. die Flüchtlinge nicht nach Libyen zurückgebracht, weil es „kein sicheres Herkunftsland“ ist. Das „Problem“ sei dadurch „gelöst“ worden, dass Tripolis auf Contes Drängen hin einen Frachter aus Sierra Leone, der gerade in der Nähe war, dazu brachte, die Schiffbrüchigen zu übernehmen und nach Libyen zurückzubringen. Als Gegenleistung habe die italienische Regierung „den libyschen Küstenmilizen neue Finanzierungszusagen gemacht“. Italien zahlt, damit die Flüchtlinge wieder in libysche KZs gebracht werden. Ein Rechtsbruch, vom italienischen Ministerpräsidenten persönlich veranlasst und mit italienischen Steuergeldern bezahlt. Was aus den 150 „Zurückgeführten“ wurde, ist unbekannt. Es gibt die Erzählung, dass Conte noch der menschlichste Vertreter des Triumvirats sei, das gegenwärtig Italien regiert. Der Bericht des „Corriere“ zeigt, dass sie ein Märchen ist.