Der schwarze Kürassier
Mattarellas Klemme
In einer Demokratie soll ein Staatspräsident sowohl dem Volk und als auch der Verfassung dienen. Worin die starke Voraussetzung steckt, dass die Mehrheit des Volkes mit der Verfassung im Wesentlichen einverstanden ist. Wenn die Mehrheit – und damit auch die ihrer gewählten Vertreter – in eine andere Richtung marschiert, gerät der Staatspräsident in Stress. Weder kann er dann nur der Notar der Mehrheitsbeschlüsse sein, noch sich darauf beschränken, ohne Rücksicht auf den Wählerwillen Geist und Buchstaben der Verfassung zu verteidigen. Er muss einen dritten Weg finden – lavieren, könnte man böswillig sagen, oder eine politische „Balance“ suchen, wie es Mattarella immer wieder etwas freundlicher ausdrückt.
Seit der Märzwahl befindet sich Mattarella in dieser Situation. Die Regierung wird von einer Koalition gestellt, die den Bruch will – nicht nur mit der bisherigen Politik, sondern mit dem gesamten „System“. Hinter ihr stehen 60 % der Wahlbevölkerung. Der Staatspräsident, eine Institution des „Systems“, stammt auch selbst noch aus der vergangenen Ära: Als er 2015 gewählt wurde, gab es eine Mittelinks-Mehrheit. Da er aber für 7 Jahre gewählt wurde, muss man noch eine Weile miteinander leben, auch wenn es eine Kohabitation ohne Liebe ist.
Ein Präsident mit Ecken und Kanten
Von Anfang an war klar, dass Mattarella kein bequemer Präsident sein würde. Der Jurist aus Palermo und zeitweilige Verfassungsrichter verkörpert den Typ des „preußischen“ Staatdieners, den es gerade – manchen mag’s wundern – auch in Süditalien gibt. Von einem Mann, dessen Bruder 1980 die sizilianische Mafia ermordete, ist wenig Biegsamkeit zu erwarten. Und er hat die Konstitution eines Langstreckenläufers. Zumindest Berlusconi wusste, aus welchem Holz Mattarella geschnitzt ist – die Freundschaft mit Renzi zerbrach, als dieser vorschlug, Mattarella zum neuen Staatspräsidenten zu machen. Gerade Berlusconi war von Mattarella schon oft auf die Finger geschlagen worden. Zum ersten Mal 1990, als er noch zum linken Flügel der DC gehörte und von seinem Amt als Bildungsminister zurücktrat, weil er gegen ein Gesetz protestierte („Legge Mammì“), das Berlusconi, der damals noch kein Politiker, sondern nur ein aufstrebender Medienhai war, zu viel Macht einräumte
Als Mattarella bei seiner Amtseinführung feierlich auf die Verfassung eingeschworen wurde, konnte man sich sicher sein, dass er den Schwur ernst nahm. Umso größer ist das Problem, vor das ihn im letzten Jahr das Ergebnis der Märzwahl stellt. Denn er hat es seitdem mit einer Koalition zu tun, die mit der Verfassung noch weniger im Sinn hat als der alte Berlusconi. Die xenophobe Lega will zurück zu einer sich abschottenden autoritären Gesellschaft, in der die Nation über den Menschenrechten steht. Die 5-Sterne-Bewegung will die repräsentative durch eine „direkte“ Mausklick-Demokratie ersetzen, die ohne vermittelnde Instanzen (Parlamente, gewissensfreie Abgeordnete, unabhängige Medien) funktioniert. Und in Wahrheit genauso autoritär ist wie alle anderen Demokratien, die sich bisher für „direkt“ erklärten (der Leader ist direkter Ausdruck des Volkswillens). Das Bündnis der beiden Formationen einigte sich auf ein Programm, das Italien wirtschaftlich ruinieren, den Rechtsstaat unterhöhlen und Europa zerstören kann.
Inkohärentes Handeln …
Diesmal kann Mattarella sein Problem nicht so lösen, wie er es 1990 tat: durch Rücktritt. Als das Duumvirat Di Maio – Salvini im vergangenen Sommer die Regierung zusammenstellte, hätte er zwar noch einmal alles hätte hinwerfen können. Es war der Moment, als sich Di Maio und Salvini auf den Euroskeptiker Savona als Wirtschaftsminister einigten, wogegen Mattarella sein Veto einlegte. Salvini und Di Maio waren zunächst bereit, es darüber zur Verfassungskrise kommen zu lassen – die Grillini starteten ihre übliche Hass-Kampagne, Di Maio forderte sogar Mattarellas Empeachment. Der 77-Jährige wusste, dass hier mehr auf dem Spiel als eine ruhige Rente stand. Sein Rücktritt wäre ein Paukenschlag gewesen, aber hätte die Machtfülle der neuen Regierung noch hermetischer gemacht. Mit ihrer Mehrheit in beiden Kammern hätte das Bündnis problemlos einen Nachfolger gefunden, der das Durchregieren noch leichter gemacht hätte. Als Mattarella standhielt, waren es Di Maio und Salvini, die schließlich nachgaben (ein Ausreizen des Konflikts hätte auch ihnen schaden können, da Mattarella kaum weniger populär ist als sie selbst).
Der Fall machte deutlich, wie Mattarella die neue Situation zu bewältigen sucht. Denn auch er ließ sich auf einen Kompromiss ein: Zwar wurde Savona nicht Wirtschaftsminister, aber „Minister für europäische Angelegenheiten“ (gilt auch in Italien als minder wichtig). Hier nicht nachgeben, dort aber Zugeständnisse machen, auch auf Kosten der Kohärenz, so bleibt Mattarella im Spiel. Als er Salvinis Sicherheitsdekret unterschrieb, tat er es trotz des Zweifels, ob es verfassungskonform ist. Aber am gleichen Tag schrieb er Conte einen Brief, in dem er ihn aufforderte, bei der Umsetzung des Dekrets Italiens verfassungsmäßige und internationale Verpflichtungen zu beachten. Eine klassische Problemverschiebung „nach unten“. Seitdem protestieren die Bürgermeister – nun sind sie es, die vors Verfassungsgericht wollen.
Während Mattarella in beiden Fällen eher reagierte, greift er auch gestaltend ein. In diese Rolle wuchs er hinein, als es Ende 2018 um die Höhe des Defizits ging, das Italien beim Haushalt für das Jahr 2019 einplant. Hier schienen zwei Züge aufeinander zuzurasen: Die Koalition wollte die Wahlversprechen einlösen, denen sie ihren Wahlsieg verdankte, Brüssel beharrte auf der vereinbarten Defizitgrenze. Für den Europawahlkampf schien sie damit schon ihr Thema gefunden zu haben. Obwohl es zur Katastrophe für alle hätte werden können: Für Italien, weil es wieder den Spread in die Höhe treiben würde, der schon Berlusconi zu Fall gebracht hatte. Und für Europa, weil es die EU nach dem Brexit in eine Existenzkrise getrieben hätte (Italien ist nicht Griechenland). Hier wurde der überzeugte Europäer Mattarella zum Protagonisten eines Kompromisses, der das Schlimmste verhütete, indem er nicht nur – fast täglich, wie man hört – sein direktes Gegenüber Conte bearbeitete, sondern sich auch immer wieder hinter den Kulissen mit Brüssel und sogar Draghi beriet. Hier ließ Mattarella die klassische Rolle des Staatspräsidenten weit hinter sich.
… klare Rede
Aber das ist nur die eine Hälfte. Die andere Hälfte besteht aus dem, was Mattarella sagt – reden gehört zum Job des Staatspräsidenten, und Mattarellas Besonderheit ist es, dabei immer klarer und undiplomatischer zu werden. Hier liefert er nach, was sein Handeln noch im Halbschatten lässt. Wenn er zum Beispiel in seiner Silvesterrede das Bedürfnis nach Sicherheit als berechtigt würdigt, dann aber hinzufügt, dass es sie nur dort geben könne, wo die „positiven Werte des Zusammenleben wirksam erhalten und garantiert werden“, gepaart mit „Solidarität und Respekt vor anderen“, und man sich „jeder Missgunst, Beleidigung und Intoleranz“ enthalte. Jeder weiß, gegen wen sich dies richtet, auch wenn ihn Mattarella nicht beim Namen nennt. Eine Gegenbotschaft, die einen Millimeter vor dem Adressaten endet.
Mit beidem verschafft er sich ein wenig Bewegungsfreiheit. Seine Stimme ist leise wie das Gewissen, und was er tut, mag aussichtslos scheinen. Aber es waren mehr als 10 Millionen, so die Meinungsforscher, die diesmal seine Silvesteransprache sahen. Dreimal mehr als vor einem Jahr, und mehr als die 8,6 Millionen, die im vergangenen Frühjahr mittelinks oder links wählten. Durch die Klarheit seiner Rede und die Inkohärenz seiner Taten hält er eine Tür offen, nicht nur sich selbst. Der schwarze Kürassier, der schlicht und unübersehbar vor dem Quirinalspalast stand, war die Andeutung einer offeneren, freieren Welt.
Auch wenn es auf die Dauer nicht reicht, nur eine Tür offenzuhalten. Es muss am Ende auch jemand kommen, der durch sie eintritt. Aber das ist ein anderes Thema.
PS: Nach wüsten Attacken Di Maios gegen Frankreich, der sich mit den „Gelbwesten“ solidarisierte, hat Mattarella am Freitag demonstrativ den französischen Botschafter in Italien empfangen und eine Einladung Macrons nach Frankreich angenommen. Auch dies war ein Signal.