Klarer Sieg Zingarettis bei PD-Vorwahlen
Nicola Zingaretti, der Präsident der Region Latium, ist der neue Generalsekretär (in Deutschland würden wir sagen: der neue Parteivorsitzende) der sozialdemokratischen PD. Am vergangenen Sonntag fanden in ganz Italien die Vorwahlen („Primarie“) zur Kür des künftigen PD-Chefs statt. An 7.000 Wahlständen, die in Parteizirkeln oder auf öffentlichen Plätzen aufgestellt waren, konnten die Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgegeben. Laut Parteistatut durften nicht nur Mitglieder an der Wahl teilnehmen, sondern jeder, der schriftlich erklärte, das Programm und die Ziele der PD zu unterstützen (was erfahrungsgemäß Raum für Manipulationen bietet, z. B. durch rechte Wähler, die das Ergebnis beeinflussen wollen). Die Beteiligung übertraf die Erwartungen: über 1.600.000 Bürger gaben ihre Stimme für einen der drei Kandidaten ab. Neben dem Favoriten Zingaretti war der kommissarisch amtierende Generalsekretär Maurizio Martina angetreten, und schließlich auch Roberto Giachetti, ein enger Vertrauter des früheren Ministerpräsidenten Renzi,.
Zingaretti siegte deutlich mit 66,5% der Stimmen, für Martina entschieden sich 22,5%, für Giachetti 12,5%. Da Zingaretti die vom Parteistatut geforderte Mehrheit von 51,% bei den Vorwahlen weit überschritten hat, ist er direkt gewählt. Womit die Notwendigkeit einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen auf einem Parteikongress entfällt.Genau diese Stichwahl hatten die Anhänger Zingarettis gefürchtet, denn es ist bekannt, dass die Mehrheitsverhältnisse auf dem Parteikongress andere sind als „an der Basis“. Unter den Delegierten verfügt Renzi noch über eine „starke Truppe“. Diese hätte bei einer Kongresswahl – um den erstplatzierten Zingaretti zu verhindern, der ein scharfer Kritiker Renzis ist – den zweitplatzierten „Kompromisskandidaten“ Martina nach vorne bringen können.
Gewaltige Herausforderung
Dass die Entscheidung durch die direkte Stimmabgabe von Bürgern und nicht als Folge fraktioneller Machtspiele auf einem Parteikongress zustande kam, ist positiv. Erstens, weil es der demokratischen Willensbildung innerhalb der Partei stärker Rechnung trägt, und zweitens, weil ein unmittelbar und mit klarer Mehrheit gewählter Parteileader mit größerer politischer Autorität – nach innen und außen – agieren kann. Das ist wichtig für eine Partei, die durch zermürbende interne Machtkämpfe und einen massiven Vertrauensverlust bei den Wählern geschwächt und verunsichert ist. Das eindeutige Votum bei den Vorwahlen kann dazu beitragen, enttäuschte Parteianhänger zu neuem Engagement zu motivieren und die selbstgefällige Machtbesessenheit mancher „Parteigranden“ in die Schranke zu weisen. Wobei die Betonung auf dem Wort „kann“ liegt.
Denn die Herausforderung, vor der der neue Generalsekretär steht, ist gewaltig. Entscheidend wird sein, ob es ihm gelingt, anstelle der Aufarbeitung vergangener interner Querelen die Einigung der Partei auf einen konkreten politischen Gegenentwurf zu dem nationalistischen, fremdenfeindlichen und obendrein chaotischen Kurs der Regierung zu erreichen. Denn bisher hat es die PD, die zahlenmäßig immer noch die stärkste Oppositionspartei ist, nicht geschafft, über ein allgemeines Anprangern der Schandtaten der Koalition von Lega und 5-Sterne-Bewegung hinauszukommen.
Zingaretti gehört in der PD zu ihrem „linken Flügel“. Er hat zu Renzi stets kritische Distanz gewahrt, sowohl hinsichtlich von dessen „blairistischem“ Reformkurs als auch wegen dessen ganz auf die eigene Person ausgerichteten Führungsstils. Zingaretti ist auch einer der wenigen prominenten PD-Vertreter, der mit den Gruppierungen links von der PD, die „Abtrünnigen“ um Bersani und D‘ Alema eingeschlossen, den Dialog sucht. Seine Kritiker innerhalb der Partei – allen voran die „Renzianer“ – unterstellen ihm ein „Augenzwinkern“ gegenüber den Grillini als möglichem künftigen Bündnispartner, sollte deren Regierungskoalition mit der Lega scheitern. Zingaretti selbst bestreitet dies und betont, ihm gehe es darum, die enttäuschten ehemaligen PD-Wähler zurückzugewinnen, die bei der Wahl im März ihre Stimme der 5SB gaben. Und nicht um die Zusammenarbeit mit der 5SB selbst.
Tatsächlich kann diese Frage nicht taktisch, sondern nur politisch entschieden werden. Und Fakt ist, dass sich die 5SB seit ihrem Eintritt in die Regierungskoalition die souveränistische, europafeindliche und xenophobe Politik der Lega immer mehr zu eigen gemacht hat. Sie fährt wirtschaftspolitisch einen abenteuerlichen Kurs, der das Land auf Kosten der jungen Generationen weiter verschuldet, und verfügt über keinerlei Konzept für eine strukturelle Förderung von Wirtschaftskraft und Beschäftigung. Es ist nach aktueller Lage der Dinge schlicht nicht vorstellbar, wie eine solche Partei als Verbündeter beim Aufbau einer linksdemokratischen Alternative mitwirken könnte.
„Die Menschen zuerst!“
Denn darum geht es. Nicht nur die hohe Beteiligung an den Vorwahlen und der große Zuspruch für Zingaretti, sondern auch letzte Großdemonstrationen der Gewerkschaften in Rom für mehr Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit und in Mailand gegen Rassismus zeigen, dass nach einem knappen Jahr rechtspopulistischer Regierung das „andere Italien“ – wenn auch noch minoritär – seine Stimme erhebt. „Prima le persone!“ („Zuerst die Menschen!“) hieß sowohl das Motto der Demonstration in Mailand, an der sich 250.000 beteiligten, als auch der Leitspruch von Zingarettis Kampagne für die Vorwahlen. Ein Leitspruch, der sich direkt und bewusst gegen das nationalistische und ausgrenzende „Prima gli italiani!“ von Salvini und Di Maio richtet.
Zingaretti hat nach seiner Wahl betont, dass er sich nicht als „Chef“, sondern als „Leader im Dienste einer Gemeinschaft“ versteht und seine erste Aufgabe darin sieht, für die im Mai anstehenden Europawahlen ein über die PD hinausgehendes Mittelinksbündnis zu erreichen. Er sucht dafür das Gespräch sowohl mit „Mehr Europa“ von Emma Bonino als auch mit „Sinistra Italiana“ und der Gruppe „Movimento Democratico e Progressista/MDP“, die letzte Abspaltung von der PD. Das Unterfangen ist schwierig und stößt auch innerhalb der eigenen Partei auf Widerstände. So plädiert z. B. Carlo Calenda, der Wirtschaftsminister in der Gentiloni-Regierung war, für eine proeuropäische „Einheitsliste“ ohne PD-Führung, die gegenüber der liberaldemokratischen Mitte offen ist. Und Renzi und seine Anhänger orientieren sich auf europäischer Ebene – anders als Zingaretti – nicht an der Sozialdemokratischen Partei Europas/SPE, sondern an Macrons neuer Formation „En marche“.
Überhaupt ist fraglich, ob Renzi und seine Getreuen nach ihrer empfindlichen Niederlage bei den Vorwahlen in der PD bleiben werden. Noch beteuern sie es und verkünden, den politischen Gegner nicht innerhalb der eigenen Partei, sondern in der Regierung zu sehen. Er wünsche dem neuen Generalsekretär viel Erfolg, erklärte Renzi nach der Bekanntgabe der Ergebnisse. Aber wer ihn kennt, weiß, dass er nicht daran denkt, von der politischen Bühne bescheiden abzutreten.
Zingaretti wäre jedenfalls gut beraten, sich bei seinen nächsten politischen Schritten nicht auf die Befindlichkeiten interner Gegenspieler, sondern auf den Auftrag zu konzentrieren, den ihm über 1,6 Millionen Bürgern bei den Vorwahlen erteilten: die Voraussetzung für die Bildung einer politischen Alternative zu der gegenwärtigen Regierung zu schaffen, die dabei ist, Italien in eine politische, wirtschaftliche und auch kulturelle Rückwärtsspirale zu führen.