Zukunft braucht Erinnerung
Was ein Volk aus seiner Zukunft macht, hängt davon ab, woran es sich erinnert – und woran es sich erinnern will. Die extreme Rechte will ein Volk, das sich an Teile der Vergangenheit nicht mehr erinnert. Die Pegida-Frontfrau Fensterling wünschte sich eine Psychiater-Couch, um den Deutschen den Holocaust auszutreiben. Björn Höcke will „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, für Alexander Gauland ist der Nationalsozialismus ein „Vogelschiss“ in der ansonsten so „erfolgreichen“ deutschen Geschichte.
Ähnlich Salvini. Der 25. April ist in Italien der Tag der Befreiung vom Nazifaschismus, und obwohl er Innenminister ist, blieb er den Veranstaltungen fern. Er begründete es mit seiner Unlust, dem an diesem Tag üblichen „Derby zwischen Faschisten und Kommunisten“ beizuwohnen. Eine angebliche Äquidistanz, die jeden, der sich an den Sieg über die deutschen Besatzer und italienischen Faschisten erinnern will, als „Kommunisten“ abstempelt, und unterschlägt, dass Salvini beste Beziehungen zur faschistischen Casa Pound und den Stadion-Ultras unterhält. Wenn er dann noch hinzufügt, ihn interessiere nur „die Zukunft des Landes“, meint er eine Zukunft ohne die Blässe des historischen Zweifels. Eine Zukunft, die für alles offen ist, auch – das ist das Trostlose – für jede Wiederholung.
Aber das Problem der „Erinnerungskultur“ ist in Italien nicht nur die Negation von rechts. Auf ihr lastet auch das Erbe einer paternalistischen Linken, die dem Volk nach dem zweiten Weltkrieg eine positive Identifikationsmöglichkeit geben wollte. Die Erinnerung an den Faschismus, der in Italien ebenso demokratisch an die Macht kam wie der Nazismus in Deutschland, sollte von den zwei Jahren antifaschistischen Kampfes überstrahlt werden, der am Ende das Vorrücken der Alliierten flankierte. Das war gut gemeint, um das zerrissene Nachkriegs-Italien zu befrieden, trug aber zur massiven Verdrängung dessen bei, wozu sich zwar nicht das ganze Volk, aber doch seine Mehrheit zwei Jahrzehnte lang als fähig erwiesen hatte. Spätestens heute zeigt sich, dass die erhoffte Immunisierung gegen eine Rückkehr des Faschismus so gerade nicht erreicht wurde.
Francesca Melandris „Sangue giusto“
Es gibt Stimmen gegen den Main Stream, auch im kulturellen Raum. Zu ihnen gehört Francesca Melandris Buch „Sangue giusto“ (‚Richtiges Blut‘), das 2017 in Italien erschien. Die deutsche Übersetzung kam 2018 bei Wagenbach heraus, unter dem Titel „Alle, außer mir“ (der irreführend ist, weil er den für das Buch zentralen Konflikt zwischen „richtigem“ und „falschem Blut“ zur Hoffnung auf persönliches Überleben banalisiert).
Die Grundidee des Buches ist schnell erzählt: Im Jahr 2010, während gerade der libysche Diktator Gaddafi Ministerpräsident Berlusconi besucht, erscheint im römischen Haus einer Lehrerin ein junger Schwarzer, der behauptet, der Enkel ihres noch lebenden, aber dement vor sich hindämmernden Vaters zu sein. Die Lehrerin, die fürchtet, in dem Ankömmling einen Betrüger vor sich zu haben, geht der Sache nach, weil ihr Vater während des Faschismus eine Zeit lang in Abessinien lebte, das gerade zur italienischen Kolonie geworden war. Damit hat das Buch den Faden, an dem entlang es eine Geschichte mit zwei gegensätzlichen Helden erzählt: Ilaria, die linksliberale Tochter, und ihren Vater Attilio Profeti, der, solange er noch nicht dement war, als schöner Mann, sonniges Gemüt und opportunistischer Mitläufer den Faschismus samt Nachkriegszeit überstand. Wie es sich für einen solchen Roman gehört, kommt die Wahrheit schrittweise ans Licht: Der Vater, der stets den perfekten Familienmenschen spielte, entpuppt sich als mehrfacher Bigamist, der mit verschiedenen Frauen Kinder zeugte, auch in Abessinien. In dem Maße, wie sich die Recherche der Tochter den beruflichen und schriftstellerischen Aktivitäten des Vaters in den 30er Jahren nähert, wird das Buch zur Aufklärung über die Zeit der faschistischen Kolonialherrschaft.Obwohl das Buch keine leichte Kost und 600 Seiten dick ist, ist es fesselnd. Stilistisch arbeitet es mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln und ist eine kühne Mischung von Erzählung und soziologischer Abhandlung, von Fiktion und historischen Fakten (die Autorin war für ihre Recherchen zweimal in Äthiopien, lernte Amharisch, sprach mit „Mischlingen“, die die italienische Besatzung hinterließ, und erkundete die heutigen Fluchtwege aus Eritrea und Äthiopien nach Italien). Was sie fast beiläufig zutage fördert, ist schrecklich. Es räumt mit einigen immer noch vorhandenen Lebenslügen Italiens auf.
Verdrängter Kolonialismus
Das Italien der Nachkriegszeit verdrängte die Erinnerung an den eigenen Kolonialismus, indem es ihn zu einem Epiphänomen des Faschismus und damit (wie diesen) zu einer Art Unfall der Geschichte erklärte. Melandri hält dagegen, dass „Eritrea bereits Ende des 19. Jahrhunderts zur Kolonie erklärt wurde und Libyen noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – also Jahre bevor die meisten Italiener den Namen Mussolini überhaupt gehört hatten“. Gleich mit entsorgt wurden damit auch die Verbrechen, die das faschistische Italien beging, als es sich Abessinien einverleibte: Massenvergewaltigungen und Einsatz von Senfgas gegen die Zivilbevölkerung, mit Hunderttausenden von Toten (die Forschung spricht von 350.000 bis 480.000). Da dies schon gegen das nach dem 1. Weltkrieg veränderte Völkerrecht verstieß, wurden die Toten zu Opfern der „Lepra“ erklärt.
Verdrängter Rassismus
Die italienische Rechte pflegt die Legende, der einzige Sündenfall des Faschismus sei die Übernahme der nazistischen Rassengesetze gewesen. Am Beispiel einer realen historischen Figur, des Rassenforschers Cipriani (den das Buch zu Profetis Vorgesetztem in Abessinien macht), zeigt Melandri den Nährboden, den der Rassismus in Italien fand, und am Beispiel des in Abessinien errichteten Apartheid-Regimes, mit welchen Auswirkungen. Dabei stößt sie zum Kern des allzu inflationierten Begriffs „Rassismus“ vor: Von ihm ist zu sprechen, wenn im anderen Aussehen von Menschen (Hautfarbe, Gesichtszüge) ein Indiz für weniger Menschlichkeit gesehen wird – mit allen Konsequenzen für das, was ihnen gegenüber erlaubt ist. Dass er sich mit einem liebenswerten Familiensinn verbinden kann, ist die Nettigkeit des Bösen – und die alltägliche Wurzel seiner Wiederholbarkeit.
Drei Botschaften
Die erste wird auf S. 270 ausgesprochen: „Die zwei blutigen Jahre der deutschen Besatzung hatten es möglich gemacht, dass eine Mehrheit der Italiener sich in einer der beiden Hauptpersonen des nationalen Bilderreigens wiederfand, entweder in dem wehrlosen Opfer oder in dem Partisanen, dem Helden des Widerstands“. Womit diese Mehrheit „vergessen“ durfte, welches Regime Italien zwei Jahrzehnte lang beherrscht hatte, und zwar mit ihrer Zustimmung. Heute ist deutlich: Den Faschismus zu vergessen, schafft ihn nicht aus der Welt, sondern hält die Tür für seine Wiederkehr offen.
Die zweite Botschaft ist die Fortdauer des Rassismus. Melandris Buch erschien 2017, als die offene Brutalität des Salvini-Regimes noch in der Zukunft lag, aber Minniti schon mit der „Rückführung“ der Bootsflüchtlinge in die libyschen Lager begonnen hatte. Melandri schildert in der Rahmenhandlung die Erfahrungen, die der äthiopische Junge bei seinem Versuch machte, über den Sudan und Libyen nach Italien zu kommen, und die Anstrengungen des italienischen Staats, sich seiner wieder zu entledigen. Auch die positive Heldin des Buchs, Ilaria, muss schließlich erkennen, dass in ihrem Engagement für den Jungen ein Rest rassistischer Blutsideologie steckt: Er könnte als Sohn eines Halbbruders „zur Familie“ gehören. Hier endet das Buch mit einer ironischen Pointe: Nachdem es Ilaria geschafft hat, den Jungen mit Hilfe ihrer connections vor der Abschiebung zu bewahren, kommt heraus, dass der „richtige“ Halbneffe längst gestorben ist und der Junge in seine Identität schlüpfte, um eine Chance zur Flucht zu haben. Da akzeptiert auch Ilaria den „Betrug“, den sie anfangs befürchtet hatte.
Die dritte Botschaft
Hier könnte das Weiterdenken beginnen. Sind wir Deutschen, die wir uns der Aufarbeitung unserer Geschichte rühmen, vom Rassismus so viel freier? Verdrängen nicht auch wir unsere Kolonialgeschichte? Behandeln wir die Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, wirklich gleich? 2015 öffnete eine Mehrheit der Deutschen ihr Land und ihre Herzen fast einer Million Flüchtlinge, während wir heute mehr oder minder schweigend die Verbrechen hinnehmen, die im europäischen – und damit auch in unserem – Namen den Afrikanern angetan werden, die in Libyen stranden. Könnte dies auch etwas mit ihrer Hautfarbe zu tun haben?
Wir brauchen die Erinnerung, um vor allem auch die eigene unaufhebbare Ambivalenz zu erkennen. Francesca Melandris Buch ist fesselnd, weil sie diese Ambivalenz zum Grundprinzip ihrer Charaktere machte, auch des Charakters von Ilaria. Was Melandri gegenüber dem Deutschlandfunk so kommentierte: „Es gibt keinen einzigen Menschen, den ich kenne, der nur eins ist. Er ist immer doppelt“. Das ist ihre dritte Botschaft: Humanes Handeln braucht den Selbstzweifel, und Selbstzweifel braucht Erinnerung.