Triumph der Lega, Niedergang der 5 Sterne
Vor 20.000 herbeigekarrten Claqueuren hatte Salvini in Mailand zuvor das unbefleckte Herz der Madonna angerufen, zusammen mit allen zuständigen Heiligen, und den Rosenkranz geschwenkt. Inzwischen weiß er: Die Madonna hat ihn, den Verteidiger Italiens, Europas und des Christentums gegen die Invasion des Bösen und gegen einen häretischen Papst, gnädig erhört. In Form seines Wahlsieges und als Zeichen dafür, dass er seinen Weg gegen alle Anfechtungen fortsetzen soll. Etwa so interpretierte Salvini, wieder mit Rosenkranz, seinen Sieg auf der improvisierten Pressekonferenz, als in der Nacht zwischen Sonntag und Montag die ersten Hochrechnungen kamen.
Der Sieg ist in der Tat eindrucksvoll. 56 % der Italienerinnen und Italiener gingen zur Wahl – zwei Prozent weniger als vor 5 Jahren, aber im europäischen Vergleich immer noch überdurchschnittlich viel –, und von ihnen stimmten über 34 % für die Lega, ebenso viel wie bei den nationalen Wahlen vor einem guten Jahr noch für die 5-Sterne-Bewegung gestimmt hatten. Als ob sinnfällig werden soll, dass sich seitdem die Kräfteverhältnisse zwischen 5SB und Lega buchstäblich umgekehrt haben, war es diesmal die 5SB, die exakt die 17 % erreichte, mit denen vor einem Jahr die Lega als Juniorpartner ins Regierungsbündnis eintrat. In einem Jahr ist der 5SB die Hälfte ihrer Wähler abhandengekommen, während sich die Wählerschaft der Lega verdoppelte. Dass seine Wähler „wohl zu Hause geblieben sind“, wie Di Maio am Montag meinte, verschiebt nur den Erklärungsbedarf. Zudem zeigt eine Untersuchung des Triester Forschungsinstituts SWG, dass auch dies nur eine Teilwahrheit ist. Zwar entschied sich ein größerer Teil der früheren 5SB-Wähler tatsächlich für die Enthaltung. Aber schon bei den letzten Regionalwahlen war zu beobachten, dass ein nicht unerheblicher Teil derer, die vor einem Jahr noch die 5SB wählten, ihr in zwei Richtungen davonlaufen: vor allem weiter zur Lega, der Partei des „starken Mannes“, oder zurück zu einer PD, die mit Zingaretti als Generalsekretär wieder etwas attraktiver geworden ist.
Kleiner Wiederaufstieg der PD
Damit sind wir beim zweiten weniger spektakulären Ergebnis dieser Wahl: Der Abstieg der PD, der unaufhaltsam schien wie bei anderen Sozialdemokratien Europas, wurde vorerst gestoppt. Aus den 18,7 %, auf welche die PD bei den nationalen Wahlen im März 2018 kam und die nur eine Zwischenstation ihrer noch weitergehenden Marginalisierung zu sein schienen, wurden jetzt 22,7 %. Im Vergleich zu den 34 % der Lega nicht viel, aber da die PD Bescheidenheit gelernt hat, bejubelt ihre Führung das Plus von 4 % wie einen Lottogewinn. Zum einen belohne dies, so Zingaretti, die Entscheidung, gegen den Rechtspopulismus ein möglichst breites Bündnis zusammenzubringen. Damit hatten die Parteikader bisher nicht viel Übung, aber allein schon der Versuch erwies sich als hinreichend erfolgreich, um ihn nun auch künftig wiederholen zu wollen. Zum anderen ließen die die Sozialdemokraten die 5SB um 5 Punkte hinter sich. Obwohl sie dies eher der wachsenden Popularität Salvinis als der eigenen verdanken, macht es sie rechnerisch (nach der Lega) wieder zur zweitstärksten Partei Italiens. Dies sei, so ebenfalls Zingaretti, der „Wiedereinstieg in den Bipolarismus zwischen Rechts und Links“.
Die Ressourcen der Rechten
Die Europawahl lieferte Anhaltspunkte dafür, dass Zingarettis Erleichterung vielleicht verfrüht ist. Denn sie zeigte, dass den knapp 23 % der PD nicht nur die gut 34 % der Lega und die 17 % einer (zerfallenden) 5SB gegenüberstehen. Die Lega hat bei Bedarf weitere Ressourcen, auf die sie zurückgreifen kann:
(a) die „alte“ Rechte um Berlusconi, die wie ihr Chef einer Ruine gleicht, aber bei der Europawahl immer noch 8,8 % einfuhr. Auf europäischer Ebene gehört Forza Italia zwar noch zur EVP, aber gegenüber Salvini hat Berlusconi längst seine Unterwerfung erklärt. Berlusconis Besonderheit bleibt seine prinzipielle Ablehnung der 5SB, deren Hauptursache wiederum deren Weigerung sein dürfte, mit ihm zusammenzuarbeiten (ein Erbe der Zeit, in der sich die 5SB noch als Anti-Korruptions-Partei profilierte). Als sich der Streit zwischen Salvini und Di Maio zuspitzte, flehte Berlusconi fast täglich Salvini an, endlich die Koalition mit den 5Sternen aufzukündigen und durch ihn zu ersetzen;
(b) die Ultrarechte um Giorgia Meloni, deren neofaschistische Partei „Fratelli d’Italia“ kräftig zulegte (sie kam auf 6,5 %), die ebenfalls in Wartehaltung steht.
Das Ergebnis der Wahl ist also, dass sich die Zustimmungswerte für die beiden Koalitionäre grundsätzlich anders verteilen als vor einem Jahr, dass aber weiterhin mehr als 50 % des Wahlvolks hinter ihrem Bündnis stehen. Und dass den knapp 23 %, welche die PD wieder auf die Waage bringt, eine Rechte gegenübersteht, die neben den beiden Bündnispartnern noch über eine Reserve von weiteren 15 % verfügt. Wer hier „Bipolarismus“ sieht, müsste also zumindest das Wort „asymmetrisch“ hinzufügen.
Wie geht es weiter?
In Italien hatten die Europawahlen schon immer eine größere innenpolitische Bedeutung als in Deutschland – was u. a. bedeutet, dass die Beteiligung an ihnen traditionell höher ist als in Deutschland, und sie noch mehr als Test der aktuellen Kräfteverhältnisse im eigenen Land wahrgenommen werden. Dementsprechend wird der jetzige Sieg der Lega in der italienischen Öffentlichkeit als Beweis dafür gewertet, dass die Wahlergebnisse vom März 2018, welche die 5SB zur stärksten politischen Kraft in beiden Kammern machten, grundlegend überholt sind, und Salvini eigentlich das Recht hätte, eine Umbildung der Regierung zu fordern, die dem Rechnung trägt. Was Berlusconi und Meloni gleich fordern ließ, sich nun endlich des lästigen Bündnispartners Di Maio zu entledigen.
Inzwischen glaubt kaum noch jemand, dass das gegenwärtige Regierungsbündnis die verbleibenden 4 Jahre bis zum Ende der Legislaturperiode (2023) halten wird. Wenn sich schon nach einem guten Jahr herausstellt, dass es offenbar die Hauptfunktion des (anfänglich) großen Partners war, den (anfänglich) kleinen Partner groß zu machen, und er selbst dabei immer mehr an Substanz verliert, ohne dass etwas in Sicht ist, das eine Fortsetzung dieser Dynamik aufhalten könnte, spricht vieles für die vorzeitige Implosion des Bündnisses, obwohl es immer noch von über 50 % des aktiven Wahlvolks getragen wird.
Die 5SB in der Falle
Es zeigt jedoch Salvinis Schlauheit, dass er trotzdem – oder deswegen – vorerst an dem Bündnis mit der 5SB festhalten will, ohne auch nur eine Regierungsumbildung zu fordern. Innenpolitisch kann seine Lage kaum komfortabler werden: Er hat mit den Migranten das Dauerthema, das ihm stetige Popularität sichert. Er ist mit einer politischen Kraft verbündet, die ihm in beiden Kammern Mehrheiten garantiert und die er gleichzeitig langsam aussaugen kann. Und die sich ab sofort keine weiteren Konflikte erlauben darf, weil sie schon jetzt um jeden Preis vorzeitige Neuwahlen verhindern muss, die ihr eigenes Ende besiegeln würden. Wie es im Mittelalter oft reichte, Widerstrebenden die Folterinstrumente zu zeigen, um sie gefügig zu machen, so genügt hier der Hinweis auf mögliche Neuwahlen. Dass Salvini noch etwas in der Hinterhand hat, womit sich die 5SB jederzeit ersetzen ließe, macht es perfekt.
Zurzeit kann Salvini die Kräfteverhältnisse wirken lassen, wie sie sind. So klingt es fast milde, wenn er am Montag verkündet, nun müsse Schluss sein mit den Streitereien, damit man sich wieder den anstehenden Aufgaben zuwenden kann: der flat tax, dem TAV, dem Gesetz für die regionalen Autonomien, dem neuen Sicherheitsgesetz. Das ist Salvinis Agenda, und alle wissen, dass er von nun an erwartet, hier nicht mehr auf Widerspruch zu stoßen.
Di Maio brauchte einen Tag, um zu verkünden, dass er von sich aus nicht zurücktreten werde. Und fügte (offenbar mit Blick auf Salvini) hinzu, dass er auch in Zukunft nur das tun werde, was er und seine 5SB für richtig halten. Dass er dies betonen musste, zeigt die veränderte Lage – wie das angestrengte Lächeln, mit dem er es begleitete. Dass er ein guter Parteisoldat bleibt, zeigt seine Ankündigung, dass am 30. Mai im Netz eine Blitz-Abstimmung über seine Zukunft stattfinde. Ein Ritual, das ihm wohl die eigene Entscheidung ersparen soll.
Misserfolg in Europa
In einem Punkt hat sich die Madonna als knauserig erwiesen. Sie hat Salvini innenpolitisch zwar auf Rosen gebettet, aber seinen schönen Plan, bei der Gelegenheit auch gleich Europa zu übernehmen, (vorerst?) nicht erhört. Stattdessen ist, wie man hört, aus Brüssel schon ein neuer Mahnbrief wegen des italienischen Haushaltsdefizits unterwegs. Die versprochene flat tax wirft ihre Schatten voraus. Und Mario Draghi, der bisher seine schützende Hand über Italien hielt, wird als Präsident der Europäischen Zentralbank abgelöst. Salvini kennt schon die Lösung: Er fordert für Italien den neuen EU-Wirtschaftskommissar. Ob er damit durchkommt, daran mag ein kleiner Zweifel erlaubt sein.
Interessant sind auch die Gegenstände, die man auf dem Foto im Regal hinter Salvini sieht, u.a.: ein Foto von Putin, die Baskenmütze mit der Aufschrift „make america great again“ (Trumps Wahlmotto), eine Ikone mit dem Bildnis Jesus, eine Ampulle mit dem Wasser des Flusses Po (Symbol der „alten“ separatistischen Lega Nord), der Sankt Markus-Löwe (ebf. Lega-Symbol) und das Buch von Christopher Hale „Der Kreuzzug Himmlers“ über die Nazi-Expedition im Tibet im Jahr 1938. Ob es sich um ein „zufälliges Sammelsorium“ oder eine bewusst drapierte „Botschaft“ handelt, darüber lässt sich nur spekulieren. In beiden Fällen gibt die Auswahl von Salvinis „Devotionalien“ Grund zum Nachdenken.