Europawahlen: Deutungsversuche

Ich möchte über einige Analysen der italienischen Europawahlen berichten – zunächst der Wählerwanderungen, die zwischen der politischen Wahl im März 2018 und der Europawahl im Mai 2019 stattfanden, und dann der Frage: Wer wählte Lega, wer wählte noch PD?

Wählerwanderung

Der Politologe Marco Revelli schreibt zu Recht: Wer sagt, bei den Europawahlen habe die Lega ihren Wähleranteil von 17 auf 34 % verdoppelt, sagt zu wenig. Denn jeder Dritte entschied sich diesmal nicht einfach für „die Lega“, sondern „für die schlimmste Lega seit ihrer Gründung. Für die Lega von Salvini und Giorgetti (der als ’Theoretiker‘ der Lega gilt, HH), der Lega der geschlossenen Häfen und geschwenkten Rosenkränze… Er wählte die Lega im vollen Wissen dessen, was aus ihr geworden ist. Denn der ‚Capitano‘ (Salvini, HH) hat mit nichts hinter dem Berg gehalten, sondern geradezu genussvoll sein Schlechtestes nach außen gekehrt: seine Verachtung für das Leben anderer (der Letzten, der Schwächsten); seine Verhöhnung der Solidarität, seine Freundschaft mit Casa Pound, seine Nähe zur korrupten Verwaltung, seine Toleranz gegenüber großstädtischen Pogromen“. Die Verdoppelung honoriert gerade auch die Richtung, in die Salvini Italien seit seinem Machtantritt geführt hat. Mit der Ermunterung: weiter so!

Auf fast die gesamte Rechte wirkt diese Lega wie ein riesiger Staubsauger. Mit der 5SB und Berlusconis Forza Italia als Zwischenetappen: Von denen, die sich vor einem Jahr noch für sie entschieden hatten, liefen diesmal 14 % von der 5SB und 20 % von Berlusconi zu Salvini über. Nur eine rechte Partei zahlte diesen Tribut nicht: die „Fratelli d’Italia“ (FdI), deren politischer Stammbaum auf die neofaschistische „Soziale Bewegung“ (MSI) zurückgeht und als noch „rechter“ gilt. Im Schatten des Wachstums der Lega erhöhte sie ihren Anteil von 4,4 auf 6,6 %, während Forza Italia von 14 auf 8,8 % schrumpfte.

Der große Verlierer ist die 5-Sterne-Bewegung. Von den 10,7 Millionen, die sie noch vor einem guten Jahr gewählt hatten, waren es diesmal nur noch 38 %. Genauso viele blieben zu Hause. Von den restlichen 24 % wählte die gute Hälfte Lega, zur PD kehrte nur jeder Sechste zurück (wenn es eine Rückkehr war) – was manche Blütenträume verdorren ließ, dass hier endlich ein ‚Rückstrom der Reue‘ einsetzen müsse.

Dass sich die PD als ‚zweiten Wahlsieger‘ ausrief (‚Wiedereinstieg in den Bipolarismus‘), erweist sich als Beschönigung. Ihr Erfolg beschränkte sich darauf, nicht (was ihr viele prophezeit hatten) noch weiter zu schrumpfen. Von den 6,1 Millionen, die sie jetzt wählten, hatten sie vor einem Jahr schon fast 70 % gewählt, 10 % kamen von Leuten, die sich vor einem Jahr noch enthalten hatten, 6 % von der linken Splitterpartei LeU (die sich vor allem wegen der Differenzen mit Renzi abgespalten hatte und nun ins Bündnis zurückkehrte). 7 % kamen von der 5-Sterne-Bewegung – zu viele, um hier alle Hoffnung fahren zu lassen, zu wenige, um von einer Trendwende reden zu können. Dass die PD ihren Stimmenanteil prozentual erhöhte (18,7 % 2018, jetzt 22,7 %), erscheint eindrucksvoll, ist aber vor allem der geringeren Wahlbeteiligung geschuldet (an absoluten Stimmen bekam die PD sogar 45.000 weniger). Die PD hat sich gehalten, aber keine neuen Wählerschichten erschlossen.

Wer Lega wählte, wer PD

Die Antwort auf die Frage, wer Salvini gewählt hat, ist auf den ersten Blick einfach: Wähler aller Altersstufen, aus allen sozialen Schichten und Regionen. Im Norden, dem klassischen Stammland der Lega, noch etwas häufiger als im Süden (wo sich die 5-Sterne-Bewegung halbwegs gehalten hat), von Frauen (mit 37 %) etwas häufiger als von Männern (fühlen sie sich von seiner Anti-Migranten-Politik „beschützter“?).

Was früher einmal die eurokommunistische KPI war, nämlich eine „Arbeiterpartei“ oder „Partei der kleinen Leute“, ist die heutige PD längst nicht mehr. Die Europawahlen haben es erneut bestätigt: Wer im heutigen Italien als „Arbeiter“ oder „Armer“ eingestuft wird und noch wählen geht, wählte zu fast 50 % Lega (ca. 20 % 5SB, 13 % PD).

Parteiwahl in Abhängigkeit von der Ortsgröße

Parteiwahl in Abhängigkeit von der Ortsgröße

Zur Frage, wen die PD dann überhaupt noch repräsentiert, gibt es zwei Befunde, die sich gegenseitig ergänzen. Befund (1): Im Gegensatz zu den „Arbeitern“ und „Armen“ sind es eher Freiberufler, Selbständige, Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und Rentner, bei denen sie verankert ist. Befund (2) ist spektakulärer und lässt sich in dem Titel eines Artikels zusammenfassen, der am 27. Mai in der Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“ zu lesen war: „Warum bei den Europawahlen die Städte PD und die Provinz Lega wählten“. Die auf dieser Seite reproduzierte Grafik macht die These augenfällig: Je kleiner der Ort ist, desto mehr Menschen wählen in ihm Lega. Oder komplementär: Je größer der Ort, desto mehr wählen PD. Die Schere schließt sich in den Großstädten, um sich in den allergrößten Städten in die entgegengesetzte Richtung zu öffnen. Nach Einwohnerzahlen sind Rom, Mailand, Turin, Genua, Bologna, Florenz, Neapel, Palermo, Catania und Bari die 10 größten Städte Italiens – in den ersten 6 lag bei der Europawahl die PD vorn, in den letzten 4 die 5SB. Und in keiner die Lega, der ansonsten große Wahlsieger. Dazu gibt es noch eine weitere Daumenregel: In den Städten erzielte die PD 10 Prozent mehr als in der umliegenden Provinz.

Erklärungen

Die plausibelste Erklärung liefert der Mailänder Soziologe Roberto Biorcio, der auf den unterschiedlichen ökonomischen Status der Bewohner in den urbanen Zentren und in der „Provinz“ (zu der auch die großstädtische Peripherie gehört) verweist: Während die ersten meist über größere ökonomische Ressourcen verfügen, leben die zweiten oft in schwierigeren ökonomischen Verhältnissen, leiden mehr unter der (in Italien nie beendeten) Krise und neigen eher politischen Angeboten zu, die den Bruch mit dem „System“ und den als „traditionell“ wahrgenommenen Parteien versprechen. So bestätigt auch Italien die Polarisierung, welche die Globalisierung in der Mittelschicht bewirkt und die z. B. Reckwitz in das Zentrum seiner Untersuchung über „Die Gesellschaft der Singularitäten“ stellt.

Die interessante Frage ist allerdings, ob sich hierin eine soziale Zwangsläufigkeit ausdrückt, welche die Mittelschicht in zwei Lager spaltet: hier das Lager der „Abgehängten“ (das die Rechtspopulisten wählt), dort das Lager einer bessergestellten, weltoffenen und kosmopolitischen neuen Mittelklasse, die es in die urbanen Zentren zieht (und PD wählt). Denn auch dies lehrt das Italien: Dahinter stecken politische Entscheidungen, die durchaus umkämpft sind. Als der „Renzismus“, der die Politik der PD jahrelang prägte, die Partei vorrangig auf die Bedürfnisse dieser neuen Mittelklasse ausrichtete, verlor sie mehr als nur ihre Büros in den Vorstädten. Es war naheliegend, weil es einfacher war – war es auch weitsichtig? Zumindest diese Büros will die PD Zingarettis nun wieder öffnen.

Allerdings reicht auch die Erklärung mit den ‚Abgehängten‘ nicht aus. Im „reichen“ Nordwesten Italiens sind die Einkommen hoch – warum kommt auch dort die Lega auf Werte von 65 %? Hier greift Biorcio zu einer ähnlichen Erklärung wie z. B. Heitmeyer: Nicht nur „Abgehängte“ können Sympathien für die Rechtspopulisten entwickeln, sondern auch Bürger, die ihren Wohlstand verteidigen wollen. Auch wenn sie in der eigenen Umgebung kaum auftauchen, können „Flüchtlinge“ als Bedrohung wahrgenommen werden. Ganz abgesehen davon, dass Salvini den kleinen Unternehmern, Handwerkern und Selbstständigen zusätzlich das versprach, wofür sie immer empfänglich sind: Steuerleichterungen (auch wenn Europa daran zerbrechen könnte).

Nachtrag für den deutschen Leser, der im italienischen Ergebnis der Europawahl vielleicht die grüne Spur sucht: Hier gab es keinen „Greta-Thunberg“-Effekt, obwohl auch in Italien freitags demonstriert wird – die italienischen Grünen befinden sich schon lange im politischen Abseits. Sie landeten weit unter der 4 %-Barriere bei 2,3 %.